Es liegt nicht an Dir…

Egal, welchen Lebensbereich man sich anschaut, ob Liebe, Berufswelt oder Freundschaften – niemand sagt die reine Wahrheit. Wir lügen alle, jeden Tag und zu jeder Gelegenheit. In der Liebe, im Beruf, in Freundschaften.

Laut einer Legende aus dem 19. Jahrhundert treffen sich die Wahrheit und die Lüge eines Tages. Die Lüge sagt zur Wahrheit: „Heute ist ein wunderbarer Tag“! Die Wahrheit blickt in den Himmel und seufzt, denn der Tag war wirklich schön. Sie verbringen viel Zeit miteinander und kommen schließlich neben einem Brunnen an. Die Lüge erzählt die Wahrheit: „Das Wasser ist sehr schön, lass uns zusammen baden!“ Die Wahrheit, erneut verdächtig, testet das Wasser und entdeckt, dass es wirklich sehr nett ist. Sie ziehen sich aus und beginnen zu baden. Plötzlich kommt die Lüge aus dem Wasser, zieht die Kleider der Wahrheit an und rennt davon. Die wütende Wahrheit kommt aus dem Brunnen und rennt überall hin, um die Lüge zu finden und ihre Kleidung zurückzubekommen. Die Welt, die die Wahrheit nackt sieht, wendet ihren Blick mit Verachtung und Wut ab.

Die arme Wahrheit kehrt zum Brunnen zurück und verschwindet für immer und versteckt darin ihre Scham. Seither reist die Lüge um die Welt, verkleidet als die Wahrheit, befriedigt die Bedürfnisse der Gesellschaft, denn die Welt hat auf keinen Fall den Wunsch, der nackten Wahrheit zu begegnen.”

Quelle: https://gedankenwelt.de/die-legende-von-luege-und-wahrheit

http://www.natursymphonie.com/die-nackte-wahrheit/

Der Standardsatz:

Es liegt nicht an dir, es liegt an mir“

Wir geben uns sogar richtig Mühe und machen uns extrem viele Gedanken darüber, wie wir anderen Dinge schonend beibringen. Taktvoll. Gefiltert. Aufgehübscht und mit einem Herzchen und Kussmund.

„Du bist echt toll, aber im Moment muss ich mich auf mich selbst konzentrieren“ statt „Du bist es einfach nichts für mich“. „Ja, wir sollten unbedingt mal wieder lunchen gehen“ statt „Die Stille am Kaffeeautomaten mit dir ist mir peinlich, deswegen rede ich nur irgendwas, um Geräusche zu machen.

Der besagte Lunch wird nie gegessen werden. Die sogenannte interessante Herausforderung, auf die man sich schon freut, bei dem Gespräch mit dem Chef, ist eigentlich unliebsame Extraarbeit, auf und für deren Umsetzung man weder Lust noch Zeit hat, es aber aus Gründen der Hierarchie verpflichtet ist es zu tun.

Durchschnittlich lügen wir ungefähr hundertmal am Tag.

Und damit meine ich nicht bewusstes Täuschen und etwas Erzählen was überhaupt nicht stimmt, sondern Kleinigkeiten, Halbwahrheiten, Beschönigungen, wie „die neue Frisur steht dir super“, „du bist viel zu gut für ihn und „klar, bereite ich die Präsentation auch am Wochenende gerne vor“.

Und wenn man mal wirklich eine böse Botschaft hat, viel Tänzeln und Bla Bla als Vorspeise, bevor man den unangenehmen Hauptgang serviert. Das ist nicht Lügen mit böser Absicht, sondern das, was man gelernt hat:

sich benehmen, rücksichtsvoll sein, niemanden vor den Kopf stoßen, Respekt zeigen

Doch warum soviel Tanz auf den Eierschalen?

Sind wir wirklich so höflich den anderen gegenüber? Oder schlicht zu feige? Was würde passieren, wenn wir öfter ehrlich wären? Was wäre, wenn wir plötzlich ganz ungefiltert sagen würden, was Sache ist? Wäre das gut? Würde das unsere Beziehungen verbessern, echter und transparenter machen? Mit dem Chef in ein Arbeitsverhältnis auf Augenhöhe statt ungleichgewichtigem Katzbuckeln schaffen? Oder wäre das ganz furchtbar, weil alles, was wir während der Sozialisation gelernt hätten, plötzlich wackeln und uns um die Ohren fliegen würde? Wenn ich morgens dem Typen mit dem furchtbaren Mundgeruch im Bus statt ihn böse anzugucken einfach ins Gesicht sage, dass er stinkt, ganz ehrlich – wie wär’s?

Die Wahrheit macht dich frei, aber vorher macht sie dich fertig

Wer ungefiltert spricht, ist nicht gnadenlos ehrlich und mutig, sondern wird als unhöflicher Rüpel wahrgenommen. Manche Gespräche könnten durchaus mehr Wahrheit gut vertragen und es wäre doch denkbar, dass mein Gegenüber plötzlich brutal ehrlich zurück reagiert, wenn man ES mit der nackten Wahrheit konfrontiert.  Es ist jedoch ein extrem schmaler Grat zwischen radikaler Ehrlichkeit und asozialer Gruseligkeit.

Ehrlichkeit befreit zwar zunächst, aber bestraft uns danach

Auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Wahrheit, einmal ausgesprochen, böse Folgen haben kann, am meisten für einen selbst.

Als ich einer Freundin nach monatelangen Beschwerden ihrerseits über einen Mann, den sie sehr attraktiv fand und mochte, der aber offensichtlich nicht auf sie stand, gesagt habe, dass ich es einfach leid bin, ihr immer wieder Gehör zu schenken und mir das Gejammer nicht mehr anhören will, legte sie beleidigt am Telefon auf und unser Verhältnis kühlte ab.

Was lernte ich daraus?

Das Aussprechen der Wahrheit war in dem Moment zwar befreiend, bestrafte mich aber statt mich weiterzubringen. Ich blieb in diesem Fall mit einer sauren Freundin, die über meine Kaltherzigkeit herzog, zurück. Die Wahrheit ist, die Wahrheit will nicht nur keiner sagen, es will sie auch keiner hören. Das System des Lügens und Belügens wird ja nicht ohne Grund seit Ewigkeiten so aufrechterhalten und immer weitergepflegt und jeder abgestraft, der versucht, sich zu widersetzen. Das sind die ungeschriebenen Normen im Umgang miteinander, die durch die Erziehung, das Gruppenverhalten und die Gewohnheit immer wieder wiederholt und verstärkt werden, bis sie uns so in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass wir keine anderen Optionen mehr sehen.

Wer sich nicht anpasst, wird aus dem System ausgeschlossen. Wer will das schon? Was hat man denn von angegriffenen Egos, und angesäuerten Freundinnen, die in einem nur noch das Problem sehen und für immer von der Freundinnenliste streichen?

Deswegen werden wir weiter tanzen und schmücken, die Message in hübsche Geschenkboxen verpacken, eine Schleife drum binden und sie erst dann gaaaaanz vorsichtig mit einer vorher sorgfältig ausgetüftelten Choreografie servieren. Oder anders gesagt: taktvollen und respektvollen Umgang miteinander pflegen.

Diplomatie. Feingefühl. Social Skills.

Willkommen im Leben 

https://ze.tt/wir-luegen-einander-an-weil-niemand-die-wahrheit-ertraegt/