Die kognitive Dissonanz
Wie Sie mit kleinen Lügen Ihre Gefühle in Ordnung bringen
Angenommen, Sie haben sich um eine Stelle beworben, aber man hat Ihnen einen anderen Kandidaten vorgezogen. Statt sich einzugestehen, dass sie nicht genügend qualifiziert sind, reden Sie sich ein, dass sie im Grunde die Stelle gar nicht haben wollten. Sie wollten nur wieder mal ihren Marktwert testen, schauen, ob man sie überhaupt noch zu Bewerbungsgesprächen einlädt. Ein geschildertes Problem eines Klienten.
„Ein Fuchs schlich sich an einen Weinstock heran. Sein Blick hing sehnsüchtig an den dicken, blauen, überreifen Trauben. Er stützte sich mit seinen Vorderpfoten gegen den Stamm, reckte seinen Hals empor und wollte ein paar Trauben erwischen, aber sie hingen zu hoch. Verärgert versucht er sein Glück noch einmal. Diesmal tat er einen gewaltigen Satz, doch er schnappte nur ins Leere. Ein drittes Mal sprang er aus Leibeskräften so hoch, dass er auf den Rücken fiel. Nicht ein Blatt hatte sich bewegt. Der Fuchs rümpfe die Nase: „sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben. Mit erhobenem Haupt stolzierte er in den Wald zurück.
Die Fabel des griechischen Dichter Äsop zeigt eine der häufigsten Denkfehler auf. Was sich der Fuchs vorgenommen hat und was dabei herausgekommen ist, passen nicht zusammen. Diesen ärgerlichen Widerspruch (Dissonanz) kann der Fuchs auf drei Arten entschärfen:
- indem er sich die Trauben auf irgendeine Art doch noch holt,
- indem er sich eingesteht, dass seine Fähigkeiten dazu nicht reichen,
- indem er nachträglich etwas uminterpretiert.
Im Letzteren Fall spricht man von kognitive Dissonanz beziehungsweise von deren Auflösung.
„Du kannst noch so sehr den schlauen Fuchs spielen – die Trauben hast du damit nicht gefressen!!
Wir alle versuchen permanent, uns und anderen zu erklären, warum wir so sind, wie wir sind, und weshalb wir tun, was wir tun. Und meistens liegen wir damit total daneben. Tatsächlich bestimmen nämlich unsere Gefühle einen Großteil unserer Entscheidungen, die vernünftigen Gründe erfinden wir hinterher. Das Lustige ist: Auch das ist ganz normal so, heißt es.
„Wir entscheiden nach Gefühl? „Kann nicht sein“, schüttle ich zunächst ungläubig den Kopf, aber dann fällt mir eine Reihe von Exfreunden ein, die eindeutig beweist, dass die Beteiligung des Verstandes bei einigen Entscheidungen nahezu ausgeschlossen ist. Unter anderem gab es einen Er-trennt-sich-bestimmt-bald, einen Irgendwann-wird-er-mich-lieben und nicht zu vergessen den Er-wird-sich-bestimmt-ändern. Ehrlich gesagt, wäre es ja auch komisch, wenn Herzensangelegenheiten nicht vom Gefühl bestimmt würden.
Eigentlich kann man kognitive Dissonanz auch so beschreiben:
„Ich mach mir die Welt, widdewiddewie sie mir gefällt …“
Genau. Und zwei mal drei macht vier. Sagte schon Pippi Langstrumpf. Und das funktioniert in allen Lebenslagen! Ich habe in bestimmten Lebensabschnitten unfassbar viele ungesunde Dinge getan. Aber kaum hatte der Verstand beschlossen, dass es wirklich besser, gesünder und klüger wäre, auf die schönen Dummheiten zu verzichten, sprang in meinem Kopf ein Clown aus der Kiste, der lamentierte: „Bist du bescheuert? Warum immer auf alles verzichten, was Spaß macht oder schmeckt? Dann kannst du ja auch gleich vegan werden, den Fernseher abschaffen und auf einen Selbstversorgerhof ziehen–und zwar ohne fließend Wasser!“ Zugegeben, mein innerer Clown übertreibt manchmal schamlos. Er ist es auch, der zum Abendessen gern Strawberry-Cheesecake-Eis von Häagen-Dazs hätte, das isst er nämlich am liebsten. Da ist sie wieder, die kognitive Dissonanz, ich weiß nämlich, dass Eis kein Eins-a-Abendessen ist und mein Hirn versucht, diese Missstimmung sogleich zu lösen, und sagt so etwas wie: „Hey, es war ein langer Tag, du hast dir echt ein bisschen Eiscreme verdient, ein bisschen Eis hat noch keinen umgebracht. Außerdem ist da Erdbeere drin und Erdbeeren sind gesund“! Und ich kann aufatmen und den großen Löffel aus der Schublade holen. Danke, Hirn!
Sie verstehen den Plot? Ob die Schuhe nun gekauft werden oder nicht, ob Sie den Becher Eis essen oder nicht, es spielt keine so große Rolle, aber das Prinzip, dass unser Hirn sich irgendeine Argumentation zusammenkratzt, um zu rechtfertigen, was wir den lieben langen Tag so tun und lassen, das schon. Das Erstaunliche an diesem Prinzip sowie noch an einigen anderen Mechanismen in unserem Gehirn ist, dass wir es unfassbar oft einfach nicht bemerken, wenn sie zum Einsatz kommen (nämlich ständig), und zwar bei Dingen, die wesentlich bedeutsamer sind als Schuhe und Süsskram. Tatsächlich, so sagt die moderne Hirnforschung, ist unser Hirn permanent damit beschäftigt irgendwelche Geschichten zu erfinden, die uns und anderen erklären, warum wir irgendetwas tun oder nicht tun und macht dabei jede Menge Fehler. Also jetzt nicht nur Ihr Gehirn, sondern Gehirne generell.
In der Vergangenheit ging man stets davon aus, dass der Clown unsere Gefühle, unser Unbewusstes, irgendwie von unserem Verstand in Zaum gehalten werden muss. So wie ein wildes Tier durch einen Dompteur. Stellen wir uns den Verstand, die Ratio, als einen ernsten älteren Herrn im dunklen Anzug vor. Er ist der Gegenpart zu dem albernen mit der roten Nase.Sein Job ist es, dafür zu sorgen, dass der Clown nicht die Herrschaft übernimmt und uns in einem spektakulären Strudel aus Eiscreme, Sofa, Filmen, Drogen, Partys und spontanen One-Night-Stands in den Abgrund reißt. Er lässt durchaus was durchgehen, besonders am Wochenende, aber irgendwann muss es auch wieder gut sein. Er ist der kühle Kopf, er versteht Argumente (und Gegenargumente), er plant unseren Weg und er weiß, was gut für uns ist. Der Clown hingegen weiß, was sich gut anfühlt–und wenn es weitab vom Weg irgendwo glitzert, dann: HEIDEWITZKA, NICHTS WIE HIN! ES GLITZERT! So ist er. Er ist aber nicht nur ein hedonistischer Partyteufel, sondern hat die ganze Bandbreite der Gefühle dabei, auch Rache und Zorn und Eifersucht und Unsicherheit und Gier und das ganze unschöne Gesocks. Wenn man zum Beispiel eine Mail von einem Kunden bekommt, die einen so richtig auf die Palme bringt, eine, in der einem in höchst herablassenden Worten Inkompetenz vorgeworfen wird, dann fängt der innerliche Clown schon an zu sabbern und wenn man ihn lässt, dann wird er umgehend eine Antwort verfassen, in der Worte wie Rindvieh, kreuzweise und zum Teufel scheren vorkommen. Darum hat es sich bewährt, in solchen Situationen eine Nacht mit der Antwort zu warten. In der Regel hat bis dahin der seriöse ältere Herr im dunklen Anzug das Ruder übernommen (er ist nun mal nicht der Schnellste) und kümmert sich um die Sache mit dem Antwortschreiben. Da steht dann unter Umständen zwar sinngemäß genau das Gleiche, aber eben mit anderen Worten. Lange Zeit wurde der seriöse Herr im dunklen Anzug über den grünen Klee gelobt, die Ratio, die Selbstbeherrschung, die Vernunft. Plato, der griechische Philosoph, hielt Gefühle für eine Krankheit, der nur mit dem Verstand beizukommen sei, und wäre es nach den Stoikern gegangen, dann hätten sie die gesamte Gefühlswelt vermutlich direkt abgeschafft. Ihrer Meinung nach konnte nur ein selbstbeherrschter Mensch die Dinge sehen, wie sie tatsächlich sind, und dementsprechend handeln. Jemand, der von Impulsen und Gefühlen beherrscht wird, ist hingegen ein triebgesteuerter Blödmann. Gut, sie sagten nicht Blödmann, aber das meinten sie. Den spitzohrigen Mister Spock von der Enterprise hätten die Stoiker geliebt, jemand, der völlig frei von Emotionen analysiert und stets die richtigen Entscheidungen trifft. Die Idee, dass wir das wilde Tier in uns kontrollieren müssen, hat sich lange gehalten und es hat auch lange Sinn gemacht. Wenn wir einen Blick in die Vergangenheit werfen, in die Zeit, als es noch deutlich rauer zuging–und mit rauen Zeiten meine ich die, in denen Hexen verbrannt wurden und öffentliche Hinrichtungen als geeignetes unterhaltsames Spektakel galten, dann wird klar: Die Idee, Vernunft und rationales Denken einzuführen, war nicht die schlechteste. Es kam die Aufklärung und es wurden so grandiose Dinge wie Menschenrechte, Autos und Digitaluhren erfunden. Das Leben wurde sogar so angenehm, dass jede Menge Menschenkinder auf die Idee kamen, sie hätten sich lange genug dem seriösen Herrn im dunklen Anzug untergeordnet und es wäre an der Zeit, ihre Gefühle zu befreien. Wenn man nichts anderes gewöhnt ist, als ebenjene zu unterdrücken, dann muss sich das wie ein Erweckungserlebnis angefühlt haben–all die Urschrei-Seminare, Meditations-, Energie-und Channelingkurse, die psychedelischen Drogen (oft LSD) und all die anderen Möglichkeiten, „Zugang“ zu den eigenen Gefühlen zu bekommen, kommen von dort. Der innere Clown lief Amok und die Leute fanden es Wahnsinn. Meine Eltern auch, sie waren welche von denen. Aus dieser Zeit stammt ein Spruch, der immer auf unseren Kühlschrank gepinnt war: Jemandem zu sagen, was du fühlst, stimmt nicht, ist Seelenmord. Was natürlich totaler Quatsch ist. Wir fühlen die ganze Zeit irgendwelches wirres Zeug, und manches beruht auf einem dämlichen Irrtum oder wird falsch interpretiert. Ein Gefühl ist noch lange kein Grund, im Recht zu sein … Sie: „Du liebst mich nicht! Ich fühle es!“ Er: „Warum denn? Ich tue doch alles für dich!“Sie: „Aber ich fühle es nun mal!“Er: verdreht die Augen. Dass Gefühle nicht die ultimative Wahrheit bedeuten und man mit seinen Gefühlen auch mal falschliegen kann, wird niemand mehr bestreiten. Die Tendenz der Ausgewogenheit fand zu der Überzeugung zurück, dass weder das ausschließliche Favorisieren von Gefühlen noch von Ratio der ganz große Wurf ist, sondern dass es die Zusammenarbeit von Clown und Verstand braucht, um einigermaßen gesund durchs Leben zu kommen. Heißt: Der ältere Herr im Anzug trifft die Entscheidungen und passt auf, dass der Clown uns mit seinen Ideen nicht in Teufels Küche bringt. Das klingt vernünftig, logisch und ist außerdem vollkommen falsch. Es ist nämlich genau andersherum.“
Dazu eine Geschichte, die ich vor kurzem gelesen habe:
Ein außergewöhnlicher Patient saß 1982 im Wartezimmer des portugiesischen Neurologen Antonio Damasio. Er hieß Elliot, einige Monate zuvor war ihm ein Tumor aus dem Gehirn operiert worden, gleich hinter der Stirn. Der Tumor war klein, doch die Folgen waren tragisch: Aus dem tüchtigen Mann war ein chronischer Zögerer geworden. Er hing stundenlang am Autoradio, weil er sich nicht für einen Sender entscheiden konnte. Er konnte kein Wort schreiben, wenn ein schwarzer und ein blauer Stift zur Wahl standen. Elliot war alltagsuntauglich geworden. Denken konnte er noch bestens, sein Intelligenzquotient war unverändert. Nur sich entscheiden, das konnte er nicht mehr.
Das Gefühl, die Fähigkeit zu fühlen, war abhanden gekommen und somit war er entscheidungsunfähig.
Quelle: R. Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, Piper Verlag,München 2020
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