„Die Lektion des Künstlers

Nadja war die begabteste Schülerin auf der Kunstschule. Durch harte Arbeit, Hingabe, Fantasie und große künstlerische Begabung hatte sie die anspruchsvolle Ausbildung durchlaufen, und nun war sie fast fertig. „Nun steht nur noch eine Lektion aus“, sagte ihr Lehrer eines Tages. „Deine Aufgabe ist es, ein Bild zu malen, das dein bis dahin hervorragendstes Werk darstellen soll.“ Nadja arbeitete Tag und Nacht, und schließlich war das Bild fertig. Es war wirklich ihr bislang bestes Werk. „Sehr gut“, lobte der Lehrer. „Nimm nun das Bild und bring es zum Marktplatz und hänge es so auf, dass alle es sehen können. Hänge zusätzlich ein Schild daneben, auf dem du beschreibst, dass du dein Werk zur allgemeinen Betrachtung und Beurteilung ausstellst und dass du dankbar bist, wenn alle, die einen Fehler auf dem Bild bemerken, diese Stelle mit einem Kreuz markieren.“ Nadja tat, was der Lehrer gesagt hatte, und wartete ungeduldig einige Tage. Dann ging sie zum Marktplatz, gespannt vor Erwartung. Sollte sie den Test bestanden haben? Würden keine Kreuze auf dem Bild sein? Doch das Herz wurde ihr schwer, als sie das Bild sah. Schon von weitem konnte sie sehen, dass das Bild vollkommen überdeckt war mit Kreuzen. Nun würde sie sicher ein „ungenügend“ auf das Bild bekommen. Betrübt ging sie zur Schule zurück und zeigte ihrem Lehrer das Bild. Der sagte nicht viel, sondern bat Nadja, ein neues Bild zu malen, wenn möglich ein noch besseres. Dieses Mal arbeitete Nadja noch härter. Sie wollte so gerne erfolgreich sein. Der Lehrer lobte auch dieses neue Bild und erklärte ihr, dass sie auch dieses Bild auf dem Marktplatz ausstellen solle. Doch dieses Mal sollte das Mitteilungsschild neben dem Bild ein wenig anders lauten. Nadja hörte auf die Instruktionen ihres Lehrers und beeilte sich dann, zum Marktplatz zu gehen. Dort hängte sie ihr Bild zusammen mit einem neuen Hinweisschild auf. Auch auf diesem Schild wurden die Leute aufgefordert, auf mögliche Fehler hinzuweisen. Doch diesmal bekamen die Zuschauer die Chance, Fehler, die sie entdeckt hatten, selbst zu korrigieren, mit Hilfe von Pinsel und Farbe, die daneben standen. Und stell dir vor, als Nadja nach einigen Tagen zu ihrem Bild zurückkehrte, hatte niemand auch nur einen einzigen Fehler finden können. Freudestrahlend ging sie zur Schule zurück und zeigte ihrem Lehrer das Bild. „Nun hast du die letzte Lektion gelernt, die du lernen musstest“, sagte der Lehrer mit einem Lächeln. Und die Lehre ist folgende: Immer wird es Menschen geben, die deine Werke beurteilen. Das erste Bild war voll mit Kreuzen, weil viele gerne ein Wörtchen mitreden wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen, auch wenn sie überhaupt keine Ahnung von der Materie haben. Dein zweites Bild war völlig ohne Kreuze, nachdem in diesem Fall auch das Können und die Geschicklichkeit der Betrachtenden und Beurteilenden selbst gefragt waren. Darum: wenn du deine Seele, deine Begabung und dein Herz in ein Werk hineingelegt hast, so fälle dein eigenes Urteil. Du gibst dem Werk seinen Wert, das können alle Betrachter der Welt dir nicht wegnehmen. Und vergiss nicht: dasselbe gilt auch, wenn du das Lebenswerk eines anderen beurteilen sollst.

„Ein Steinhaufen hört in dem Moment auf, ein Steinhaufen zu sein, in dem einer, der die Steine betrachtet, das Bild einer Kathedrale vor sich sieht“

(Antoine de Saint-Exupéry)

Andere zu verurteilen verletzt nicht nur die Menschen, die es betrifft. Es schadet vor allem auch der Person, von der die Kritik ausgeht. Also sei nett zu anderen und zeige ihnen (und dir selbst!) ein bisschen Mitgefühl.

Wer diese Regeln beachtet, dessen Kritik wird künftig nicht mehr ins Leere verlaufen:

  • Weg mit den Emotionen: Erst mal durchatmen, bevor wir Kritik äußern. Die Lage analysieren, hinterfragen, abgleichen und dann ganz sachlich, kühl und pragmatisch bleiben. Auch im Ton. Das hilft dabei, dass es kein Schnellschuss oder sinnloses Genörgel wird.
  • Ich-Botschaften und keine Verallgemeinerungen: Immer mit „ich denke“, „ich fühle mich“ oder „ich wünsche mir, dass“ einsteigen. Keine Verallgemeinerungen wie „du hörst nie zu“ – das ist schlicht Unfug und Destruktiv. Auch Floskeln und absolute Formulierungen wie „immer“, „nie“, „jedes Mal“ vermeiden.
  • Konkret bleiben und Verständnis zeigen: Die Kritik sollte sich an eine Sache oder einer ganz expliziten Verhaltensweise richten, nicht an die Person oder eine Situation als Ganzes. Es hilft, Empathie zu zeigen: „Ich weiß, dass dir das wichtig ist, aber vielleicht sollten wir uns überlegen …“ So fühlt sich das Gegenüber nicht abgelehnt.
  • Kritik positiv verpacken und loben: Am Anfang einer jeden guten Kritik steht ein Lob. Sie wird noch besser ankommen, wenn sie positiv verpackt wurde: „Ich bin wirklich dankbar, dass du das immer für mich machst. Trotzdem würde ich vorschlagen, dass wir …“
  • Nie den Zweck der Kritik aus den Augen verlieren und direkt Lösungen anbieten: Nichts ist schlimmer als eine Kritik, aber kein Lösungsvorschlag dazu. Das Ziel ist es doch, die Situation zu verbessern. Wer also kritisieren möchte, sollte sich vorher Alternativen und Lösungsvorschläge überlegen, anhand derer man dann einen Konsens finden kann.

Natürlich gilt das nicht um jeden Preis.

„Es gibt Mitmenschen, mit denen man nicht diskutieren kann, weil sie nicht zuhören und lieber intellektuelles Armdrücken spielen wollen.