Im Warten entdecken wir die Zeit.
Für manche ist das Warten geschenkte Zeit, für andere ein Machtmittel, für viele aber auch eine Qual. Das Warten, Erdulden, Ertragen und Aushalten hat ganz verschiedene soziologische und psychologische Dimensionen.
Das Leben: eine große Warteschleife. Der Mensch: ein „Homo expectans“. Jeder wartet, eigentlich fast immer: auf eine kleine Auskunft oder die große Liebe, auf das Ende einer langweiligen Sitzung oder den Start einer aufregenden Karriere. Fans erwarten einen flüchtigen Blick auf ihren Star am Roten Teppich. Flüchtlinge warten auf ihre einzige Chance in endlosen Reihen vor dem Zaun. Wir warten auf bessere Zeiten oder den Weltuntergang, auf einen Geburtstermin oder den Tod.
Estragon: Komm, wir gehen!
Wladimir: Wir können nicht.
Estragon: Warum nicht?
Wladimir: Wir warten auf Godot.
Warten ist eine existentielle und zugleich so alltägliche Erfahrung. Bisweilen gänzlich absurd …
„Man wartet viel im Leben, auf alles Mögliche.“
„Wer wartet denn gerne? Ich kenn nicht so viele Leute, die sagen: Ey geil, ich wart jetzt mal noch ne Stunde.“
„Warten kann ja auch Muße bedeuten.“
„Es ist langweilig und nervig.“
Warten ist das „Erleben von Zeit“ – und natürlich abhängig von äußeren Umständen, davon, wie und worauf man wartet.
Vor allem das Warten-Können ist eine Frage des Individuums und seiner inneren, seiner seelischen Verfassung – und seiner Entwicklung im Laufe des Lebens.
Wer Kinder hat, kennt das: Schon nach wenigen Reisekilometern im Auto geht’s los:
„Mama, wann sind wir endlich da?“ Ob man „bald“ sagt oder „in drei Tagen“, macht kaum einen Unterschied: Ein paar Minuten Ruhe, schon tönt’s wieder vom Rücksitz.
Je häufiger jemand Erfahrungen mit der Unzuverlässigkeit seiner Mitmenschen macht, desto schwächer ist das warten können ausgeprägt.
Das individuelle Warten-Können wird offensichtlich auch beeinflusst von verschiedenen „Zeit-Kulturen“. Grundsätzlich unterscheidet man zwei Konzepte. Ein lineares Zeitverständnis in dem sich Zeit kontinuierlich fortentwickelt, von einem Anfang hin zu einem Ende in ferner Zukunft. Man findet es vor allem in den monotheistischen Religionen, während die fernöstlichen Religionen ein zyklisches Zeitverständnis haben, gekennzeichnet durch Wiederholungen einzelner Ereignisse und eine Konzentration auf das Hier und Jetzt.
Aber auch in alltäglichen Zeitvorstellungen gibt es große kulturelle Unterschiede.
„Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“, heißt ein afrikanisches Sprichwort. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ich sehr viel Zeit hier in Südafrika mit „“Warten“ verbringe.
„Wenn man zum ersten Mal dort ist, hat man das Gefühl, den größten Anteil des Tages dort mit Warten zu verbringen. Auf den Bus, der eben nicht fährt, wenn es 8:20 Uhr ist, sondern wenn er voll ist, und auf sonstige Aktivitäten. Auf Handwerker, die mit viel Glück im Laufe des Tages erscheinen. Bei uns im Freundeskreis hat sich so eine Redensart etabliert, wenn wir uns verabreden auf eine bestimmte Zeit, wenn wir uns treffen wollen , dann wird immer nachgefragt „whiteman-time“ or „blackman-time“? Whiteman-time ist eben ungefähr pünktlich, maximal eine Viertelstunde später, wie wir das hier so kennen, und blackman-time ist irgendwann im Laufe des Tages.“
Die Luft ist stickig im Wartezimmer, kein Sitzplatz frei. Nicht mal in Ruhe lesen kann man, etwa in der Arztpraxis, wo sich zwei Patienten gegenseitig ihre Krankheitsgeschichte erzählen – für die Anderen oft unerquicklich. Ähnlich verlaufen mitunter Gespräche auf irgendeinem Amt: „Ich sitze hier schon zwei Stunden, toll! Warum dauert das denn immer so lange?“
„Der Ablauf des Wartens ist ganz offenkundig dann sozial bestimmt, wenn wir zusammen mit anderen Menschen warten. In der Arztpraxis, am Bahnsteig, an der Bushaltestelle, all das sind gesellschaftliche Warteräume, die sich üblicherweise durch ein hohes Maß an Kontrolle auszeichnen. Also wir fühlen uns an solchen Orten besonders beobachtet und deswegen auch meist recht unwohl, und es gibt in solchen Situationen des gemeinsamen Wartens unausgesprochene Regeln, die aber dennoch sehr wirksam sind.“
Bürokratie bedeutet Wartezeit
Das Warten ist ein umfassender Marker für gesellschaftliche Verhältnisse. Es sagt zum Beispiel viel darüber aus, wie eine Gesellschaft organisiert ist:
Wartezeiten steigen in der Gesellschaft, werden mehr, je größer der Grad der Bürokratisierung ist, beispielsweise, bürokratische Verfahren bedingen Wartezeit.“
Oft gehen dann Bürokratie und Hierarchie Hand in Hand: Viele Verwaltungsakte sind so aufgeteilt, dass man selbst bei geringerem Andrang doch mehrmals anstehen und Zeit opfern muss. Warten und Warten lassen – als sozialer Akt ist es eine Form von Machtausübung: Wer über die Zeit des anderen verfügen kann, demonstriert seine Wichtigkeit oder aber Gleichgültigkeit, vielleicht gar Verachtung für den Wartenden.
„Wir kennen das von Ämtern, Behörden, wenn gesellschaftlich unterprivilegierten Gruppen ihre Ohnmacht vorgeführt wird, indem man sie bewusst warten lässt. Das Warten spielt auch eine wichtige Rolle für die soziale Gerechtigkeit, denn es entscheidet darüber, wann wir soziale Ressourcen zugeteilt bekommen. Dieses Zeitmoment ist umso wichtiger, je bedeutender das Gut ist, auf das wir warten, also zum Beispiel der Student, der auf den Studienplatz wartet oder wenn wir auf die rechtliche Gleichstellung der eigenen Gruppe innerhalb der Gesellschaft warten, all das sind sehr bedeutende Warteprozesse, und wer solche Warteprozesse beeinflussen kann in der Gesellschaft, der besitzt offensichtlich sehr bedeutende soziale Macht.“
Historisch hatte „Warten“ mit dienen zu tun: der englische Begriff für Kellner zeigt das noch: Waiter und Waitress. Warten gehörte lange auch zum gesellschaftlichen Rollenbild von Frauen, als Manifestation ihrer untergeordneten Stellung. Und doch lassen sich gerade am Warten auch gesellschaftliche Fortschritte erkennen. Das Symbol dafür ist ausgerechnet die „Warteschlange“:
„In der Literatur ist man sich eigentlich einig, dass die Warteschlange gewissermaßen in Großbritannien erfunden wurde, und dass sich in der Warteschlange das egalitäre Grundprinzip der englischen Gesellschaft widerspiegelt. Da zählt mein Beruf nicht, da zählt mein Geschlecht nicht, da zählt meine soziale Herkunft nicht, sondern da gibt’s einfach das Prinzip: Wer zuerst kommt malt zuerst, first come, first served, es gibt hier also keine sozialen Rangunterschiede. Es hat etwas mit der modernen Gleichheitsidee zu tun, das also die Zeit eines jeden Menschen gleich viel wert ist, das war sicherlich etwas, was in früheren Gesellschaften, beispielsweise in Adelsgesellschaften, wenn wir an das frühere Verhältnis von Adel und Dienerschaft denken, so nicht der Fall war.“
Es geht vorwärts, Schritt für Schritt. Und Wehe, einer drängelt sich vor an der Supermarkt-Kasse. Gut, wenn jemand behindert ist oder sehr alt. Mütter mit quengelnden Kindern lässt man womöglich auch vor. Oder an der Kinokasse, da kann Angst aufkommen, ob es noch genug Eintrittskarten gibt. Und wo es mehrere Warteschlangen gibt: Warum ist meine immer langsamer?
Das demokratische Prinzip der Warteschlange ist selbstverständlich ein bloßes Ideal. Problematisch wird es zum Beispiel, wenn Güter, für die man ansteht, knapp sind. Und dann gibt es ja noch – sichtbare und unsichtbare – Warteketten, die sich jenseits des demokratischen Prinzips durch die Zeit schlängeln.
„Also je negativer konnotiert das Warten in der Gesellschaft ist, desto mehr kann man dadurch soziales Prestige demonstrieren, wenn man eben nicht warten muss, oder wenn man andere Personen warten lassen kann. Das betrifft dann genau solche Phänomene wie den Privatpatienten beim Arzt, oder der Businessclass-Reisende, der eben in eine schnellere Boardingline kommt am Flughafen. Also da wird soziales Prestige dadurch vermittelt, dass man sich die Wartezeit sparen kann, das hat natürlich auch was mit finanziellen Ressourcen zu tun, und wer es sich leisten kann, andere Personen gezielt auf sich warten zu lassen, der demonstriert natürlich gerade durch diesen Verstoß gegen das egalitäre Grundprinzip, dass er in einer sozial überlegenen Position sich befindet, die soziale Differenz.“
Warten als unproduktive Zeit
„Ja man verwartet hier die Zeit, bis der Zug kommt oder bis der Bus kommt.“
„Langeweile, Ungeduld, macht keinen Spaß.“
„Es kommt ja drauf an, was man währenddessen tut.“
„Wahrscheinlich guck ich aufs Handy.“
„Eigentlich sehr unnötig, immer zu warten auf alles.“
Warten bedeutet Unterbrechungen im Zeitfluss. Daraus entsteht Ungeduld, noch verschärft durch unser strenges Zeit-Nutzungsprinzip – mehr und mehr Symbol der Neuzeit, zurückgehend auf die protestantische Ethik. Benjamin Franklin brachte das Credo des Industriezeitalters mit seinen Fließbändern und Rationalisierungsbestrebungen auf den Punkt.:
„Time is money – Zeit ist Geld“
Erholung, Pausen im Alltag sind kaum noch vorgesehen. Das Warten als unproduktive Zeit abzuschaffen, das scheint ein Ziel unserer Zeit. Vor allem das Smartphone dokumentiert die Schwierigkeiten des modernen Menschen mit dem Warten – und scheint zugleich die Lösung dafür.
„Die Medien geben uns die Möglichkeit, die Zeit, in der wir warten, zu überbrücken, weil in aller Regel diese Zeit ja als weniger angenehm erlebt. Denken Sie an eine Zugfahrt beispielsweise, in der es immer weniger Menschen gibt, die einfach mal nach draußen schauen, zwischen dem einen oder anderen Gespräch sucht man immer noch eine Möglichkeit, die Zeit, die ja offensichtlich so unerträglich ist, zu vertreiben, indem man mit dem Smartphone andere Kommunikationen herbeiführt.“
Ein weiterer medial-technischer Versuch, mit dem Warten umzugehen: der Fortschrittsbalken am Computer beim Herunterladen eines Programms zum Beispiel. Warten sichtbar machen: Das eröffnet scheinbar neue Möglichkeiten der Kontrolle über die Zeit.
„Wenn Sie so wollen, ist das ja auch nur eine Illusion, mittlerweile weiß jeder, dass diese Fortschrittsbalken eine völlig verzerrte Wiedergabe darstellen der Zeit, die man warten muss, also es ist nichts anderes im Prinzip, als dem Nutzer die Illusion vermitteln: ja es geht voran.“
Solche Warte-Hilfen sind inzwischen weit verbreitet: Auf Bahnhöfen werden die Minuten bis zum nächsten Zug angezeigt, Wartenummern in Behörden erscheinen auf großen Displays.
„Denn das Schlimmste, was dem Wartenden passieren kann, ist, dass er merkt, es passiert nichts! Ich komme aus dieser Situation unter Umständen niemals raus. Also willigen wir ein und freuen uns, weil wir das Gefühl haben, irgendwann werd ich am Ziel sein und das Programm ist runtergeladen und ich kann weitermachen. Obwohl ich vielleicht weiß, wenn der Balken zu Ende ist, dann kommt der nächste Balken. Aber es passiert etwas, es ist Fortschritt da.“
Kontrolle der Warte-Zeit und Möglichkeiten der Ablenkung, das kann auch etwas Tröstliches haben, etwa wenn ein alter Mensch auf Besucht wartet. Aber im Ganzen verändern die medialen „Wartevermeidungs-Strategien“, Kommunikation und soziale Kontakte nicht immer zum Guten.
„Wenn wir etwa soziale Medien nutzen, bestimmte Dienste nutzen wie zum Beispiel WhatsApp oder andere, dann sehen wir nicht nur, dass eine Nachricht von uns abgeschickt wurde, wir sehen nicht nur, dass der oder die Empfängerin die Nachricht erhalten hat, sondern wir sehen auch, ob die Nachricht bereits gelesen wurde. Und da entsteht natürlich so etwas wie eine Ungeduld, warum diese Person, da sie die Nachricht ja gelesen hat, noch nicht reagiert hat.“
Lernen, wie das Warten geht
Warten auf Antwort, Zuhören, wird immer schwieriger, und das wirkt bis in die persönliche Kommunikation.
„Denken Sie etwa an Situationen, in denen Personen zusammensitzen und in regelmäßigen Abständen immer wieder auf ihr Smartphone schauen müssen, weil sie den Eindruck haben, es könnte ja inzwischen eine Nachricht gekommen sein, und auf die muss ich ja sofort reagieren. Und das verändert natürlich auch ein stückweit unsere Bereitschaft, uns auf den uns Gegenübersitzenden einzulassen, ein gewisses Maß an Geduld zu haben, es muss immer und in jedem Moment etwas Neues und Interessantes passieren, dass mitunter Dinge Zeit brauchen, ein Gedanke, eine Überlegung sich entwickeln muss über eine bestimmte Zeit, das ist nach wie vor richtig, dafür gibt es aber zunehmend weniger Gelegenheiten.“
„Beim Thema Warten fällt mir ein, dass man seinen Gedanken nachhängen kann.
„Ich versuche, dass das nicht stressig wird.“
„Wenn ich beim Arzt sitze, ist es angenehm – Wartezeit, da kann ich dann immer gut lesen.“
„Ich finde Warten ist eine Sache der Einstellung.“
Man kann es aushalten, das Warten, man kann es lernen – sollte, muss es vielleicht sogar wieder.
„Also ich würde nicht sagen, dass Warten generell gut ist, denn warten heißt für viele und in sehr vielen Situationen eine unangenehme Erfahrung. Worum es mir geht, ist, dass man bestimmte Situationen nur erleben kann, wenn man sie nicht immer mit einer alternativen Aktivität belegt. Und wenn diese Situationen dadurch verschwinden, dass wir sozusagen sie immer und überall füllen mit dem, was uns das Internet gerade anbieten könnte, dann wird es immer etwas geben, aber es wird uns nicht erlauben, ein stückweit eben auch kontemplativer zu sein, aufmerksamer zu sein, für das, was um uns herum passiert in der Welt da draußen, sondern wir suchen uns diese andere Welt, und haben keine Augen und keine Sinne mehr für das, was gerade in diesem Moment mit uns passiert.“
Früher gab es dafür den Begriff „Muße“, im Grimmschen Wörterbuch definiert als „Fernsein von Geschäften oder Abhaltungen“. Heute wird das vielleicht unter dem Schlagwort „Achtsamkeit“ diskutiert:
Warten wird als eine Zeit verstanden, die man nicht totschlagen muss, sondern eine zusätzliche, geschenkte Zeit.