Es gilt die Maskenpflicht in Zeiten von Corona.

Ob so ein Mund-Nasen-Schutz vor dem Virus hilft oder nicht, ist nach wie vor in der Diskussion. Jedoch gilt Maskenpflicht in öffentlichen Bereichen. Die Menschen begegnen einander eher abweisend in diesem Land. Das ist zumindest meine Beobachtung. Gesenkte Köpfe, fliehende Blicke, verkniffene Lippen, die sich kaum je zu einem Lächeln verziehen, das man einem Fremden schenkt. Ein halb verdecktes Gesicht hat wenig Einladendes. Ich wahre Distanz, strahlt es aus: Lass mich in Ruhe. Befolgen wir die Empfehlung zum Mundschutz, wird uns das auf der Liste der flirtfreudigsten Nationen also nicht nach oben katapultieren. Dabei bereichert Flirten das Zusammenleben. Damit meine ich den Austausch, der keinen Zweck verfolgt: ein zielloses Spiel, beiläufige Anziehung. Jemand fällt einem auf, im Zug, auf der Strasse, man lächelt sich zu, sekundenschnelles Erkennen. Und schon ist der Moment vorbei, der, wenn man sich an einem Fest begegnet wäre oder bei der Arbeit, zu einem gemeinsamen Leben hätte führen können. Wer weiss. Als wäre es nicht schon schwer genug, jemanden kennenzulernen in dieser Zeit, vermindert das maskierte Gesicht die Chancen. Klar, es sind die Augen, die ja immer noch unverhüllt bleiben. Sind die Augen denn nicht das Lebendigste in einem Gesicht? Sie können das Innere berühren, in Flammen versetzen, vernichten. Man überschätzt sie aber auch, die «Fenster zur Seele»: Ohne die übrige Mimik wird es schwierig, eine Stimmung zu deuten. Psychologen warnen denn auch vor der holzschnittartigen Kommunikation mit Maske. Nun haben wir sie aber einmal auf und müssen das Beste daraus machen. Und vielleicht lockert sie uns Gehemmte ja auch. Eine Maske ermutigt einen, Dinge zu tun, für die man sonst zu schüchtern ist. Man blickt sich neugieriger um, lacht freier heraus. Das Tuch vor Nase und Mund bietet auch psychologisch einen Schutz, der offensiver macht. Und das kommt dem Flirten zugute. Denn wer flirtet, begibt sich in eine Position der Verunsicherung. Man kann zurückgewiesen werden, sich blamieren. Mit Maske hingegen gibt man sich nicht zu erkennen. Man kann kein halb verstecktes Gesicht verlieren. So beginnen die Augen dann vielleicht doch herumzuwandern im Bus, bis sie das dunkle Augenpaar finden vorne bei der Tür. Da auch Bewegungen und Körperhaltung des Besitzers etwas Anmutiges haben, schaut man zurück. Ob sich das Flirten mit diesen Augen lohnt, spielt keine Rolle, solange die Maske aufbleibt: Der Blickkontakt verfolgt kein Ziel und will nicht mehr – auch wenn er heute oft als Belästigung empfunden wird. Dabei ziehen die Schönen nun nicht mehr Blicke auf sich als die Hässlichen. Die Maske macht gleicher. Sie verbirgt nicht nur den Schmollmund oder das kräftige Kinn, sondern auch zerknitterte Lippen, Schlauchbootlippen, hängende Mundwinkel, Sackwangen, Furchen und Doppelkinn. Allein deshalb ist es manchmal besser, dass es nicht zur Demaskierung und also zur Entzauberung kommt. Die Maske gleicht sogar die Geschlechter einander an. Denn Frauen können sich den Lippenstift sparen, und vom Puder reicht ein Tupfer auf die Wangenknochen, falls sie höher als die Maske liegen. Im Moment kann man nur mit einer Maske auffallen, wenn diese anders ist als alle anderen. Man sieht lachende Münder, Katzenschnauzen, herausgestreckte Zungen. Auf einer schwarzen Maske steht: «Wir küssen uns später». Auch ein schönes Flirtangebot. Genauso habe ich kürzlich den roten Lippenabdruck verstanden, der mitten auf der Hygienemaske eines Bekannten prangte. Er verriet nicht, wer ihm einen Kuss aufgedrückt hatte oder ob er die Maske seiner Frau mit dem Innern gegen aussen trug.

Jedenfalls passierte das, was unter normalen Umständen nicht einfach passiert:

Ich hing an seinen Lippen.

 

 

 

https://www.nzz.ch/gesellschaft/coronavirus-auch-mit-maske-laesst-sich-kommunizieren-und-flirten-ld.1554774