Reicht es, alles ganz anders zu machen, um ein anderer zu werden?
„Manchmal möchte man einfach ein anderer sein, einmal spüren, wie sich das Leben anfühlen könnte, würde man nicht im Käfig seine eigenen Persönlichkeit stecken. Doch das ist gar nicht so einfach!“
Nichts hindert ein so sehr am Leben wie die eigene Vernunft. Man könnte diese These auf die Spitze treiben: schon das Leben selber ist nicht vernünftig, denn alles, was man im Leben lernt, leistet oder anhäuft, ist am Ende verloren. Selbst die, die immer gesund essen, genug schlafen und nie übertreiben, müssen am Ende sterben. Sich von den Fesseln diese Vernunft zu befreien, ist also oberstes Gebot, wenn man etwas Neues, interessantes und aufregendes erleben will. Was die Vernunft empfiehlt, ist vorhersehbar, was vorhersehbar ist, macht keinen Spaß.
Nur neue Erlebnisse können einen zum anderen, neuen Menschen machen. Die Entscheidung, welche Erlebnisse das sein sollen, kann man aber schlecht demjenigen überlassen, der man nicht mehr sein will, also sich selbst. Wer einmal versucht hat, sich selber zu entfliehen, weiß, in welchen Peinlichkeiten des enden kann. Man ist eben nicht geübt in den Dingen, die einem nicht entsprechen. Und manchmal weiß man überhaupt nicht, was man machen soll. Die Vorstellung, man selbst sein zu müssen, um selbstbewusst zu sein, ist weit verbreitet. Sich zu verstellen gilt als schlecht. Nicht wenige plagt die Angst, sich in vorgeschriebenen Normen und Rollen zu verlieren und dadurch nicht das Leben zu können, was ihnen wirklich entspricht. Der Satz, „Werde, der du bist“ wird selten in Frage gestellt, gerne wüsste man wer man ist, sodass man in den Schlüsselmomenten seines Lebens die entsprechenden Entscheidungen treffen kann. Dabei wird oft vergessen, dass die gegenteilige Angst ja auch existiert und im Übrigen die sehr viel größere ist: Viel schrecklicher als die Vorstellung, nicht man selbst sein zu können, ist doch die Angst, kein anderer sein zu können. Das immer dasselbe herauskommt, ganz gleich, was man tut- man also trotz radikalster Entscheidung immer in sich gefangen bleibt. Und verurteilt ist, auf ewig der Bummellant, die Nervensäge, das Muttersöhnchen, der Feigling und die Langweilerin sein zu müssen, bis ans Ende aller Tage. Als Kind wusste man noch sehr genau, dass man auf keinen Fall man selbst sein kann, wenn man wirklich frei sein will. Kinder wollen nie „sie selbst sein“, sie wissen ja schon, dass sie es sind. Es gibt unzählige Geschichten über die Befreiung vom eigenen, engen Selbstbild um den anderen zu zeigen wer ich auch sein könnte. Das Tolle ist, der Anschein genügt. Faschingspartys sollen einem genau das ermöglichen, Ohne große Vorbereitung eine andere Rolle einzunehmen. Menschen verstecken sich hinter Karnevalsmasken, um aus sich heraus zu gehen. Und jeder, dem sie in dieser Verkleidung begegnen, wird dieses Spiel mitspielen und den verkleideten anders behandeln, ebenso wie ist die Aufmachung verlangt. Einmal anders gesehen zu werden ist ein erhebendes Erlebnis, neue Menschen kennenzulernen ist ja unter anderem deswegen so aufregend, weil wir durch sie die Chance bekommen, aus unserem alten ICH auszusteigen. Was auch immer einen ausmacht, bekommt durch die Augen eines ANDEREN einen anderen Akzent, und genau den braucht es von Zeit zu Zeit, um seinem Leben wieder die richtige Richtung zu geben.
„Ohne die anderen können wir kein anderer sein.“
Natürlich sind die meisten Menschen einiger einverstanden mit dem Leben, dass sie führen, sie haben es sich selbst ja so eingerichtet. Doch richtig aufregend ist das in der Regel nicht.
Oft fehlt den meisten nämlich gar nicht den Mut, aus ihrem Alltagsroutine auszubrechen, wie allseits behauptet wird, sondern schlicht und einfach der Grund. Gibt es keine Gründe, muss man sie spielen. Gespielte Gründe sind übrigens auch besser als echte. Das kann jeder bestätigen, der morgens sein Horoskop liest, um zu erfahren, was ihn heute „erwartet“. Da steht an einem Tag der Rat, man solle heute bei Auseinandersetzung nicht auf Konfrontation gehen, da man dabei nur verlieren könne. Am nächsten, dass man, wenn man von den Kollegen nicht untergebuttert werden will, einmal deutlich seine Meinung sagen soll. Und natürlich würde man das jeweils Empfohlene auch tun, denn woher sonst soll man wissen, wann was angebracht ist? Mit Nachdenken käme man hier nicht weiter. Keiner, der vor einer Entscheidung sein Horoskop befragt, glaubt jedoch ernsthaft, dass man mithilfe von Horoskopen in die Zukunft schauen kann. Würde man daran glauben, könnte man sein Horoskop nämlich aus lauter Angst vor der Wahrheit nicht lesen. Die Astrologie ist ein Spiel, es liefert die vorgeschriebenen Gründe, mit denen sich die jeweiligen Entscheidung nicht ganz so willkürlich anfühlen, wie sie es in Wirklichkeit sind.
Auch gute und vernünftige Entscheidungen sind am Ende ein Glücksspiel, und man spielt immer dann am besten, wenn man die Sache nicht ganz so ernst nimmt. Das gibt einem auch die Freiheit, das Spiel vorzeitig zu beenden, falls das ohne allzu große Verluste möglich ist. Wer zwanghaft nach der richtigen Entscheidung sucht verschwendet nur seine Zeit. Was man unbedingt will, muss man nämlich gar nicht entscheiden, das macht man ja sogar, wenn andere Menschen einen versuchen daran zu hindern. Bei allem anderen reicht es, wenn man weiß, was man nicht will. Kein Mensch kann, solange er lebt, wissen, was er will, und zwar aus einem einfachen Grund: Was ich will, ist immer etwas anderes! Weil ich morgen ein anderer sein werde, kann das, was heute richtig für mich ist, schon bald wieder falsch sein. Sieht man sein Leben als Spiel, wird man daran nicht verzweifeln.
Quelle: R. Niazi-Shahabi: Mir steht alles offen, ich find nur nicht die Tür, Piper Verlag 2019