Freiheit und Sicherheit sind zwei Grundbedürfnisse des Menschen, die sich nicht ausschließen, aber begrenzen.


„Der Wolf und der Hund, der den Hof des Bauern bewachte, begegneten sich eines Nachts und grüßten sich höflich. Der Wolf war hager und struppig, der Hund jedoch wohlgenährt, mit glänzendem Fell. „Sag, Vetter, wie kommt es, dass du so wohlgenährt bist?“, fragte der Wolf. „Ich habe eine gute Arbeit“, antwortete der Hund. „Ich wache über den Hof des Bauern und verjage die Diebe. Dafür bekomme ich morgens, mittags und abends Fleisch zu essen.“ „Das ist wirklich ein herrliches Leben. Ich wollte, ich hätte es so gut wie du!“ „Aber wie kommt es, dass du so hager und struppig bist?“, fragte nun der Hund. „Ich lebe frei im Wald“, antwortete der Wolf. „Ich tue, wie es mir beliebt und bin ständig auf der Jagd. Und wenn der Vollmond scheint, treffe ich mich mit meinen Brüdern auf dem Felsen und singe für den Mond.“ „Das ist wirklich ein herrliches Leben. Ich wollte, ich hätte es so gut wie du!“

Sicher in Freiheit, frei in Sicherheit

Wärst du lieber der Hund oder der Wolf in der Geschichte? Was glaubst du, welcher von beiden hat wohl die bessere Wahl getroffen? Wenn dir jetzt eine schnelle Antwort über die Lippen kommt, weil du vielleicht glaubst, Freiheit wäre wichtiger oder Sicherheit vernünftiger, dann wirst du gleich sehen, dass das Ganze gar nicht so einfach ist. Ich habe ja zum Beispiel einen sogenannten „kreativen Job“. Als „Freiberufler“ (in dem ja auch schon das Wort »frei« steckt) bleibt mir ein Chef erspart, feste Arbeitszeiten ebenso. Als ich die Fabel gelesen habe, dachte ich zunächst: „Klar– Freiheit ist viel entscheidender!“

Aber dann fing ich an, mir das Ganze noch einmal ein wenig genauer zu überlegen, und da wurde es kompliziert. Immerhin lebe ich in einer Familie, genieße die Sicherheit, ein Dach über dem Kopf zu haben, zahle ins Rentensystem ein und bin ganz bestimmt alles andere als eine Abenteurerin, also was heißt da schon „frei“.

Sowohl Freiheit als auch Sicherheit haben ihre Vor-und Nachteile: Der Hund bekommt mehr als genug zu fressen, dafür kann er nicht vom Bauernhof weg. Der Wolf ist frei, den Mond anzuheulen, wann immer er Lust dazu hat, dafür muss er dauernd auf die Jagd gehen, und wenn ihm das Kaninchen entwischt, heißt es wohl oder übel mit knurrendem Bauch einschlafen zu müssen. Frei zu sein ermöglicht es uns, Abenteuer zu erleben, neue Erfahrungen zu machen, unseren Mut zu entwickeln, spontanere Entscheidungen treffen zu können und den weißen Wolf( positiven Gedanken) in uns ausgiebig zu füttern. Sicher zu sein ist aber auch ein schönes Gefühl, denn Sicherheit vermittelt Vertrauen und Geborgenheit, und der feste Rahmen schützt uns davor, die Orientierung zu verlieren oder mit Sorgen den schwarzen Wolf(negativen Gedanken) zu füttern. Im Grunde brauchen wir also beides, und das fängt schon sehr früh an. Kleine Kinder brauchen Wurzeln. Sie sehnen sich nach festen Rhythmen, lieben Rituale wie die abendliche Gutenachtgeschichte oder „feste Feste“ wie Weihnachten oder Ostern. Sie brauchen Menschen, auf die sie sich verlassen können, brauchen Wurzeln, um fest auf der Erde stehen zu können. Je älter sie werden, desto wichtiger werden dann die Flügel, desto größer das Bedürfnis, Neues auszuprobieren und auch mal Grenzen zu überschreiten. Bei Erwachsenen ist das Bedürfnis nach Sicherheit sehr individuell–da ist jeder anders gestrickt. Vielleicht ist schon was dran, dass jüngere Leute eher frei, ältere lieber abgesichert sein wollen, doch es gibt auch genug Gegenbeispiele: BWL-Studenten, denen ihre Sicherheit heilig ist oder Senioren, die „aussteigen“ und etwas ganz Neues beginnen, die nach dem Grundsatz „je oller, je doller“ leben. Sicherheit und Freiheit–beides ist gut und hat in unterschiedlichen Phasen und Bereichen unseres Lebens seine Berechtigung. Ist also alles prima? Leider nicht, denn das Problem entsteht, wenn wir anfangen, uns nach dem zu sehnen, was wir nicht haben. Und natürlich tappen wir immer wieder in die „Die-anderen-haben’s-besser-Falle“. Wer fest angestellt ist und einen sicheren Job hat, sehnt sich nach Freiheit und mehr Kreativität, Freelancer hingegen nach einer sicheren Auftragslage. Wer in einer festen Beziehung lebt, träumt früher oder später von Liebesabenteuern mit einer/ einem anderen, während manch einsames Herz von einer festen Beziehung träumt. Der Hund will auf die Jagd gehen und der Wolf sein sicheres Abendessen. Man kann es halt keinem hundertprozentig recht machen. Zufrieden kannst du nur dann sein, wenn du erkennst, dass du nicht alles haben kannst. Möchtest du raus aufs stürmische Meer oder lieber im sicheren Hafen bleiben? Beides ist vollkommen okay–aber du musst dich entscheiden und deiner Entscheidung dann auch vertrauen.“

 

 

 

 


Füttere den weißen Wolf: Weisheitsgeschichten, die glücklich machen von Ronald Schweppe, Aljoscha Long

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