Wenn ich doch bloß loslassen könnte!

Wenn eine Erinnerung uns nur schadet, dann ist Vergessen der gesündeste Weg.

Du bist sehr wütend. Was dir passiert ist, ist in deinen Augen einfach ungerecht und nicht fair. Du fühlst dich missverstanden. Doch all deine Versuche, etwas daran zu ändern, machen es irgendwie nur noch schlimmer. Die Situation ist verfahren. Und jetzt fühlst du dich schlecht und kommst gar nicht mehr aus deinen Gefühlen heraus. Du weißt einfach nicht, was du jetzt tun sollst.

Du würdest einfach gerne vergessen, was passiert ist und „loslassen“,wie es immer so schön heißt.

Von außen betrachtet ist die Sache klar: Du musst die Situation verlassen. Wenn ich die Situation nicht lösen kann oder sie nicht so annehmen kann, wie sie ist, dann bleibt mir das nur noch als einzige Option. Die Situation verlassen, um mich selbst nicht vollkommen daran aufzureiben.

Und das ist auch genau der Ratschlag, den Du von nahezu allen Freunden und Bekannten bekommst:

„Hak es doch einfach ab.“

„Vergiss es doch einfach.“

„Lass es los.“

Aber du kannst nicht. Du willst nicht. Denn du bist emotional einfach zu sehr verwickelt. Wenn du vergisst, welches Unrecht dir gefühlt widerfahren ist, dann würdest du es ja einfach „herunterschlucken“. Dann würdest du dich erst so richtig schlecht fühlen, weil du dich nicht gewehrt hast. Und dann wärst du ein Opfer. Das wäre das Allerschlimmste.

Trotzdem bist du dir aber auch bewusst, in welcher misslichen Lage du dich da befindet. Wenn du den Streit weiter austrägst, dann geht es bis vors Gericht. Es wird sie sehr, sehr viel Zeit und viele Nerven kosten. Und das kann auch keiner wirklich mehr nachvollziehen, wenn du einen solchen Streit vom Zaun brichst. Schon jetzt wirst du z. T. schief angeguckt, weil du dich da emotional ganz schön reingesteigert hast.

In den Momenten in denen du emotional nicht ganz so in der Situation verfangen bist, denkst du dir schon mal: „Wenn ich doch bloß loslassen und vergessen könnte! Dann wäre mein Leben jetzt um einiges einfacher.

Wenn die Erinnerung uns schadet

Das Vergessen genießt im Gegensatz zum Erinnern keinen guten Ruf. Vergessen wird in den meisten Fällen als etwas Schlechtes betrachtet. Wer vergisst, der hat ein löchriges Gedächtnis, was als keine gute Eigenschaft gilt. Wer vergisst, der gilt eher als schwach, wenn er die Dinge auf sich beruhen lässt und nicht auf Wiedergutmachung beharrt.

Doch was tun, wenn die Erinnerung an ein Erlebnis uns nur schadet? Wenn die Erinnerung uns nicht weiterbringt, weil wir nichts mehr daran ändern können? Wenn die Erinnerung nur solche Gefühle wie Ärger, Wut oder Enttäuschung ins uns hervorruft, und das nahezu täglich?

Ich denke, in solchen Fällen ist das Vergessen die beste Form von Psychohygiene. In solchen Momenten ist es einfach sehr viel besser, wenn wir vergessen, als sich permanent weiter an eine unschöne Situation zu erinnern. Gerade dann, wenn wir nichts mehr an der Situation ändern können. Oder wenn der Aufwand immens hoch wäre, um eine Veränderung herbeizuführen.

In diesen Fällen ist es besser, zu vergessen, als sich jeden Tag von neuem mit den gleichen Gefühlen von Wut oder Enttäuschung zu plagen. Ganz einfach, weil es nichts bringt. Es ändert nichts an der Situation und einen Nutzen für mich hat es auch nicht. Ganz im Gegenteil, es vermiest mir jeden Tag aufs Neue, wenn ich immerzu daran denke.

Auch schlechte Gefühle haben doch einen Sinn

Wenn ich versuche zu vergessen, unterdrücke ich damit nicht meine Gefühle? Und ist es nicht falsch seine Gefühle zu unterdrücken? Sollten wir nicht auch ,schlechte Gefühle‘ ausleben? Die Antwort lautet: Jein.

Jeden Tag ein bisschen mehr

Stell dir vor, du würdest jeden Tag einen kleinen Schritt gehen, der dir mehr Glück, Freude, Liebe und Erfolg in dein Leben bringt.

Was hätte das für Auswirkungen?

Grundsätzlich hat jedes Gefühl eine Daseinsberechtigung. Denn jedes Gefühl möchte uns etwas mitteilen. Und darauf sollten wir auch hören. Wenn wir das nicht tun, dann nehmen wir unsere Gefühle nicht ernst. Das kann dazu führen, dass uns ein bestimmtes Gefühl immer wieder heimsucht, solange bis wir es anhören. Oder, wenn wir es ganz unter den Teppich kehren, dann kommt es eben anders wieder. In Form von Verspannungen, Magenschmerzen oder sonstigen körperlichen Beschwerden beispielsweise. Das Gefühl zu unterdrücken, wenn es erstmal da ist, ist also kein guter Weg.

Außerdem gehören Gefühle eben zum ganz normalen menschlichen Dasein. Was wären wir für Menschen, wenn wir nicht auch mal ärgerlich wären? Oder wenn wir nicht auch mal enttäuscht sein könnten? Das steht für mich hier gar nicht zur Debatte. Erst unsere Gefühle machen das Leben bunt und erst durch die Gefühlstäler weiß ich überhaupt die Gipfel zu schätzen.

Worum es hier geht, sind solche Situationen, in denen uns unsere Gefühle mehr schaden als nutzen. Situationen, in denen wir uns unseren Gefühlen hilflos ausgeliefert fühlen. Situationen, in denen wir in einer emotionalen Falle stecken, aber den Weg heraus nicht mehr finden. Situationen, in denen das Vergessen eigentlich die einzige vernünftige Option ist.

In solchen Situationen ist ein gesünderer Umgang mit unseren Gefühlen gefragt. Gesund ist das, was uns guttut. Ungesund das, was uns nicht guttut.

Wenn schlechte Gefühle unser Leben über längere Zeit vollends dominieren und wir uns ihnen hilflos ausgeliefert fühlen, dann tun sie uns nicht gut und wir sollten sie nicht grenzenlos ausleben. Vielmehr wird es dann Zeit, einen anderen Umgang damit zu finden, um wieder in Balance zu kommen und sich einen Ausweg zu verschaffen. Dann kann es gesünder sein, zu vergessen.

Der Anfang des Vergessens ist das Nicht-Erinnern

Die Erinnerung an die Situation dient als Auslöser für deine Gefühle. Wenn wir uns an eine bestimmte unschöne Situation erinnern, dann können wir uns dank unserer Vorstellungskraft binnen Sekunden wieder ganz genauso fühlen wie in dem erinnerten Moment. Das ist eine Reaktionskette, die quasi automatisch abläuft.

Du erinnerst dich beispielsweise daran, wie dich dieser bescheuerte Autofahrer vor einiger Zeit angepöbelt hat und schon schwillt die dabei wieder die Halsschlagader an.

Du erinnerst dich an den Moment, als man dich zu etwas gedrängt hat, und schon spürst du wieder dieses Grummeln im Bauch.

Ausgelöst werden diese Gefühle nicht mehr durch das reale Erleben, sondern nur durch die Erinnerung daran. Das Problem ist also die Erinnerung. Vor allem, wenn sie ständig abgerufen wird. Dann setzt die Erinnerung die Reaktionskette in Gang, die dann ganz automatisch die aufwühlenden Gefühle verursacht.

Wenn ich die Erinnerung aber gar nicht bewusst hervorhole, dann setze ich auch nicht die Reaktionskette in Gang, mit den dazugehörigen Gefühlen und bereiten damit Gefühlen der Wut täglich eine große Bühne. Damit verstärkst du das Gefühl der Wut und steigerst dich immer weiter hinein.

Ein Ausweg aus dieser Spirale wäre es, sich nicht mehr ständig an die Situation zu erinnern. Also ganz am Anfang der Reaktionskette anzusetzen. Indem ich den Gedanken daran bewusst unterbreche, sobald er mich einholt. Auf diese Weise kann ich dafür sorgen, dass die Gefühle mich nicht immerzu überrollen.

Und erst wenn das der Fall ist, kann ich meine Emotionen ein wenig abklingen lassen. Was wiederum die Voraussetzung ist, um überhaupt vergessen und loslassen zu können.

Wie Vergessen gelingt

Das Vergessen ist ein wichtiger Aspekt unserer psychischen Gesundheit. Denn in einer Situation, die man nicht annehmen mag oder für die man keine gute Lösung findet, ist das Vergessen die einzige Option.

Sich nicht ständig und bewusst an unschöne Dinge zu erinnern kann ein erster Schritt sein, um Gefühle abklingen zu lassen und das Vergessen überhaupt zu ermöglichen.

Wie macht man das genau?

  1. Räumliche Veränderung: Gibt es einen Gegenstand in Deinem Umfeld, der Dich unweigerlich an diese Situation erinnert? Dann weg damit aus Deinem Blickfeld. Versuche nichts mehr in Deinem Alltag um dich zu haben, das Dich an die Situation oder die Person erinnert. Vermeide Orte, die Dich an die Situation erinnern, und höre keine Musik, die Dich an die Situation denken lässt, die Du gerne vergessen möchtest.
  2. Ablenkung: In Studien zum Thema Grübeln hat man herausgefunden, dass man sich für mindestens 2 Minuten am Stück ablenken sollte, damit der Gedanke wieder verschwindet. Das lässt sich hier ebenso übertragen. Sobald Du dich an eine unschöne Situation erinnerst, die Du am liebsten vergessen willst, lenke Dich für mindestens 2 Minuten ab und unterbreche den Gedanken.
  3. Disziplin: Auch wenn es schwerfällt, versuche dich  nicht selbst immer daran zu erinnern. Rolle den unguten Gefühlen nicht freiwillig den roten Teppich aus. Wenn Du das schon über längere Zeit immer wieder tust, dann fällt es besonders schwer, jetzt damit aufzuhören, weil es schon zu einem Ritual geworden ist. Bleibe stark und erinnere Dich daran, warum es besser für Dich ist, diese Situation zu vergessen.

Beim Vergessen geht es übrigens nicht darum die Erinnerung an das Ereignis ganz zu löschen. Du sollst nicht komplett vergessen, wenn jemand ungerecht zu Dir war, Dich beschimpft oder betrogen hat. Aber Du musst dich auch nicht den ganzen Tag daran erinnern.

Halte es in Zukunft mit unschönen Situationen am besten so wie mit der heißen Herdplatte: Es ist abgespeichert, dass Du da nicht drauffassen sollst. Aber Du musst auch nicht jeden Tag an die heiße Herdplatte denken, um sich nicht an ihr zu verbrennen.

Erinnerungen, die Ärger, Wut oder Enttäuschung hervorrufen sind vollkommen in Ordnung. Jeder kennt das und es gehört zu unserem Leben dazu.

Aber wenn Du über längere Zeit an gar nichts anderes mehr denken kannst, dann ist das einfach nur noch belastend. Die schlechten Erinnerungen nicht mehr bewusst hervorzuholen, das kann dir dabei helfen, wieder zu einem gesunden Maß zurück zu finden. Denn Vergessen, das ist manchmal einfach die gesündeste Option.