Ohne Erwartungen leben

„Das Beste an mir–selbst wenn es anderen nicht gefällt–ist das, was ich bin, ohne jeden Anspruch, mich verändern zu müssen“
„Der Dalai Lama sagt, es sei zwar seltsam, aber unvermeidlich, dass sich manchmal das Zufriedenheitsgefühl nicht einstellt, obwohl man das Objekt seiner Begierde erreicht hat. Ist man erst einmal dort angelangt, dann führt der einzige Weg zur Weiterentwicklung dahin, das schätzen zu lernen, was man hat. Ich denke, innerlich erleben wir genau dasselbe, was–laut Warnung des Dalai Lama–auch draußen in der Wirklichkeit passiert. Das eigentliche Gegenmittel zum Begehren ist die Akzeptanz und nicht der Besitz, wünschen, aber nicht erwarten, sich bewusst sein, aber nichts beherrschen zu wollen. Versucht jemand, die eigene und die Zukunft anderer zu beherrschen, indem er ihr Verhalten manipuliert und selbst etwas Bestimmtes will, so werden sich seine Erwartungen ständig erhöhen, und sein ganzes Leben wird so ausgerichtet sein, dieses zwanghafte Gebaren noch effizienter einzusetzen.“

Ich habe eine Geschichte gelesen, und man sagt, sie sei wahr. Offenbar ist es irgendwo in Afrika passiert.

Sechs Bergarbeiter arbeiteten in einem sehr tiefen Schacht und beförderten Mineralien aus dem Inneren der Erde zutage. Plötzlich verschüttete ein Erdsturz den Ausgang und schloss sie von der Außenwelt ab. Schweigend schauten sie einander in die Augen und überblickten ihre Situation im Nu. Das größte Problem, das sagte ihnen ihre Erfahrung, würde der Sauerstoff sein. Im günstigsten Fall bliebe ihnen Atemluft für etwa drei Stunden, wenn’s hoch käme, für dreieinhalb. Genügend Leute da draußen würden wissen, dass sie dort unten gefangen waren, aber nach einem solchen Einsturz musste man einen neuen Schacht bohren, um zu ihnen zu gelangen. Würde das rechtzeitig gelingen, bevor ihnen die Luft ausging? Die Minenexperten entschieden, so sparsam wie möglich mit dem Sauerstoff umzugehen. Sie würden jegliche körperliche Anstrengung vermeiden, die Lampen löschen, die sie dabeihatten, und sich still auf den Boden legen. So schweigsam und bewegungslos im Dunkeln wurde die Zeit nur schwer abschätzbar, und bloß einer der Bergarbeiter besaß eine Uhr. An ihn richtete sich die ständige Frage: Wie viel Zeit ist vergangen? Wie viel bleibt noch? Und wie viel jetzt? Die Zeit zog sich dahin, jede Minute schien wie eine Stunde, und die Enttäuschung nach jeder Antwort verschärfte die Anspannung unter den Bergleuten. Der Grubenleiter merkte bald, wenn sie so weitermachten, würde ihre Sorge zu beschleunigter Atmung führen, und das wiederum wäre ihr Tod. Also ordnete er an, von nun an solle allein der Besitzer der Uhr die Zeit im Auge behalten. Fragen waren nicht mehr erlaubt, jede halbe Stunde würde ausgerufen. Der Besitzer der Uhr befolgte die Order. Nach der ersten halben Stunde sagte er: »Dreißig Minuten sind um.« Es gab ein Geraune unter den Leuten, und eine gewisse Angst machte sich breit. Dem Mann mit der Uhr wurde bewusst, dass es mit jedem Mal schwieriger werden würde, zu verkünden, dass die letzte Minute immer näher heranrückte. Ohne mit irgendjemandem Rücksprache zu halten, beschloss er, so elendiglich sollten sie nicht sterben. Als er das nächste Mal sagte, es sei wieder eine halbe Stunde vergangen, waren es in Wahrheit fünfundvierzig Minuten. Niemand konnte die Abweichung überprüfen, also wurde auch niemand misstrauisch. Nach seinem gelungenen Täuschungsmanöver gab der Besitzer der Uhr die dritte Information erst nach etwa einer Stunde durch. »Wieder eine halbe Stunde vergangen …«, sagte er und beließ die fünf Bergleute im Glauben, dass sie erst anderthalb Stunden insgesamt eingeschlossen waren. Und ein jeder dachte, wie langsam doch die Zeit verging. Der Mann mit der Uhr informierte von nun an nach jeder vollen Stunde, dass wieder eine halbe Stunde vergangen war. Die Rettungsmannschaft arbeitete unter Hochdruck, man wusste, in welcher Kammer die Bergleute eingeschlossen waren und dass es in weniger als vier Stunden kaum machbar war, dorthin zu gelangen. Nach viereinhalb Stunden hatten sie es geschafft. Die Wahrscheinlichkeit, dass die sechs Bergleute tot waren, war überaus groß. Tatsächlich waren fünf von ihnen noch am Leben. Nur einer war erstickt … der Mann mit der Uhr.“

Ein schreckliches Beispiel dafür, wie Erwartungen unser Leben beeinflussen, vor allem wenn sie mit einem Kontrollbedürfnis verbunden sind und solange es um das Festhalten an alten Überzeugungen geht. Genau das können unsere antrainierten Einstellungen anrichten. Immer wenn wir uns einreden, dass mit Sicherheit etwas Schlimmes passiert, sorgen wir unbewusst (vielleicht auch bewusst) dafür, dass es auch eintrifft, so wie wir es vorhergesehen haben. Wir provozieren es geradezu , suchen danach, lösen es aus, oder zumindest verhindern wir es nicht. Dieser Mechanismus funktioniert übrigens–wie in der Geschichte–auch umgekehrt. Im Glauben daran oder im Vertrauen darauf, dass es schon irgendwie weitergehen wird, nehmen die  Möglichkeiten zu voranzukommen. Hätte der Rettungstrupp zwölf Stunden Verspätung gehabt, hätte wohl niemand mehr daran geglaubt, die Bergleute noch lebend zu bergen. Ich will nicht gerade behaupten, dass positives Denken allein Berge versetzen oder Tragödien vermeiden könnte. Ich meine nur, dass jede Erwartung, so verständlich sie auch erscheint, darüber bestimmt, wie wir Schwierigkeiten begegnen. Sobald ich den Wert von Kraftanstrengungen in Frage stelle; sobald ich Zweifel daran äußere, ob es richtig ist, sich für eine gute Sache aufzuopfern; sobald ich mich über den Kontrollzwang derjenigen aufrege, die alles im Griff haben wollen; sobald ich schließlich das Wort Akzeptanz ausspreche, steht jemand auf, wedelt mit dem Zeigefinger, schaut sich nach Komplizen um und schreit: »Leute wie dich nennt man Konformisten!« Und obwohl ich weiß, er hat recht, schäme ich mich nicht dafür. Immerhin ist mir bewusst, dass sich anzupassen nicht unbedingt heißt, desinteressiert zu sein oder klein beizugeben. Es hat nichts mit Resignation zu tun. Vielmehr bedeutet es, den richtigen Zeitpunkt für eine Veränderung zu erkennen, nicht um jeden Preis etwas anders haben zu müssen und dem Leben dankbar dafür zu sein, dass es uns immer wieder die Möglichkeit gibt, etwas zu verändern oder etwas Neues aufzubauen.

Eine solche Dankbarkeit dem Leben gegenüber ist ein weiterer Schlüssel zum Glück, und alles, was diese Dankbarkeit untergräbt, vermindert unsere Möglichkeit, glücklich zu sein. Erwartungen sind Hindernisse und schädlich für eine gute Lebenseinstellung. Würden wir immer bekommen, was wir erwarten, gäbe es auch keinen Raum für Dankbarkeit, denn normalerweise bedanken wir uns nicht für das, was erwartungsgemäß eintritt. Legen wir uns abends mit der Gewissheit ins Bett, am nächsten Morgen wieder aufzustehen, werden wir beim Aufstehen höchstwahrscheinlich keine große Dankbarkeit dafür empfinden, am Leben zu sein. Nach einer lebensbedrohlichen Situation erfährt ein Großteil von uns hingegen große Dankbarkeit gegenüber dem Leben. Der einzige Moment, wo wir wirklich dankbar dafür sind, gesund zu sein, tritt für die meisten von uns eben dann ein, wenn wir nicht damit rechnen können und es trotzdem sind.

Ich entdecke eine seltsame Beule in meiner Achselhöhle. Ich gehe zum Arzt, und er teilt mir mit, es sehe verdächtig aus und er müsse eine Biopsie machen. Nachdem ich eine Woche lang auf das Ergebnis gewartet habe, stellt sich der Tumor als gutartig heraus. Und für mich ist es einer der glücklichsten Tage im Leben, und ich feiere meine strotzende Gesundheit im Kreise meiner Liebsten … Bei genauerer Betrachtung ist die Sache jedoch vollkommen absurd. Einen Tag vor Entdeckung des Tumors war ich kein bisschen gesünder als an dem Tag, als mir der Arzt die Gutartigkeit des Tumors bestätigt hat. Es hat sich nichts verändert … Die Landschaft ist noch die gleiche … doch die Augen, die den Horizont betrachten … in denen … hat sich durchaus etwas verändert …“

 

 

 – Drei Fragen: Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem? (Fischer Taschenbibliothek) von Jorge Bucay

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