Was will uns die „Tür“sagen?

Tag für Tag öffnen und schliessen wir Türen, ohne uns viel dabei zu denken. Dabei trennen die beweglichen Platten aus Holz, Glas, Metall oder Kunststoff nicht nur Räume. Sie erzählen viel über das Funktionieren des Alltags und über das Leben.

Auf den ersten Blick ist es nur das Freibier, das den Unterschied macht. Aber das kann trügen. Fakt ist: Es gibt kaum ein Wochenende, an dem nicht ein Einkaufszentrum, ein Möbelgeschäft oder ein Brillendiscounter irgendwo zum Tag der offenen Tür einlädt. Institutionen, zu deren Geschäftsmodell es gehört, tagtäglich für jeden Interessierten da zu sein, rufen Tage der offenen Tür aus.

Das wirkt kurios, hat aber seine Logik. Die Etikette «offene Tür», zu der die Gratiswurst und eventuell ein Wettbewerb mit tollen Preisen gehören, senkt die Schwelle, eliminiert die Hemmschwelle. Und wer bei solcher Gelegenheit einmal drin war im Geschäft, gesehen hat, wo sich Kasse oder Reparaturabteilung befinden, der kommt eher wieder, auch wenn wieder ein ganz gewöhnlicher Tag mit normal geöffneter Tür ist.

Mit der Tür ins Haus fallen

Es ist Psychologie, die Psychologie der Tür, die weit über das Schwenken oder Schieben von beweglichen Holz-, Glas-, Kunststoff- oder Metallplatten hinaus geht. Es zeigt, wie subtil das simpel scheinende duale Prinzip funktioniert. Zahlreiche Metaphern und Redewendungen rund um die Tür belegen es. Vor der eigenen Türe kehren bedeutet etwas anderes, als einen Besen zur Hand zu nehmen. Wer jemandem den Stuhl vor die Tür setzt, trägt nicht einfach eine Sitzgelegenheit hinaus. Wer mit der Tür ins Haus fällt, braucht sie deswegen nicht im direkten Wortsinn aus den Angeln zu heben. Und zwischen Tür und Angel ist nicht unbedingt eine Ortsangabe.

Dass die Türe mehr leistet, als Durchzug zu verhindern und Einbrecher abzuwehren, ist schon eine frühe Kindererfahrung. Wenn der Kleine mit seinen Patschhändchen erstmals die Türklinke erreicht, hat er nicht nur eine Wachstumsstufe erreicht, sondern eine neue Dimension von Eigenständigkeit. Und der Lichtstrahl, der abends vom Wohnzimmer her durch die spaltbreit offen gelassene Tür ins Kinderzimmer fällt, signalisiert der Kleinen: Du bist nicht allein und verlassen in deiner dunklen Kinderzimmerwelt.

Der eigene Hausschlüssel, den der Heranwachsende eines Tages ausgehändigt bekommt, macht die heimische Türe zur Metapher der grossen Freiheit. Später dann, im Berufsleben, hört der Neue seinen Chef sagen: «Wenn es Probleme gibt, komm zu mir, meine Tür steht immer und allen offen.» Da fühlt er sich auf Augenhöhe mit den Etablierten, da glaubt er an eine Welt, in der man alles bereden kann.

Trennung und Verbindung

Die Türe, geht daraus hervor, ist ein wichtiges Instrument im Leben der Menschen. Sie trennt und verbindet Räume, das liegt in ihrem Wesen. Eine Türe schafft Privatsphäre, sie kann einschränken, und sie kann den Bewegungsraum weiten. Wer über das Schliessen oder Öffnen einer Türe bestimmen kann, gehört dazu, der hat Befugnisse, Macht gar. Das reicht vom harmlosen Beispiel des Türstehers vor dem Nachtclub bis zur Allmacht des Gefangenenwärters.

Die Beispiele zeigen aber auch: Es gibt verschiedene Arten von Türen, und jede hat, so scheint es, ihre Botschaft. Da sind die schweren Eisen- oder Holzportale von Kirchen, die dem Menschen zu vermitteln scheinen, wie klein und schwach er vor Gott ist. Da ist die dunkle, fensterlose Türe zur Villa des Millionärs, mit der dieser zum Ausdruck bringt: Ich genüge mir selbst, ich erwarte niemanden. Und da ist die transparente, sich automatisch öffnende Glastüre des Rathauses, die für Bürgernähe steht, mehr noch, die dem Bürger zuraunt: Tritt ein, das ist auch dein Haus.

Aber wie auch immer: Die Türe ist ein Zwischenbereich, ein Übergangsbereich. Sie hat in unserem Leben und in unserem Tun eine Schalterfunktion, denn sie steht nicht nur für die Möglichkeiten zu oder offen, sondern auch für ja und nein, für vorher und nachher. Die Wendung «ein Fest steht vor der Tür» deutet die zeitliche Dimension an. Ausdrücke wie «Tür und Tor öffnen» oder «Türen zuschlagen» bedeuten, dass alles möglich ist bzw. dass jede weitere Diskussion überflüssig oder unmöglich ist. Damit bringen Türen auch etwas Ordnendes ins Leben, einmal natürlich räumlich, dann aber auch geistig.

Die Ur-Neugier wecken

Psychologen haben die These entwickelt, dass Türen wie Grenzen wirken, die unser Denken in Ereignisse gliedern. Durchschreite man sie, so trenne unser Gehirn seine Aktivität in Episoden und teile diese auch Räumen dies- und jenseits einer Türe zu. Dabei räume es auch Informationen weg, weshalb es schwieriger sei, sich in einem anderen Raum zurückzuerinnern. Hinter sich eine Türe zu schliessen, heisst nicht nur, einen Raum zu verlassen, sondern auch, mit etwas abzuschliessen.

So begleiten all die Türen, die wir im Leben öffnen und schliessen, unser Tun. Sie sind auch Begegnungsorte, wir halten Nach- und Entgegenkommenden die Türe auf, nähern uns so an – und dass die wachsende Zahl von automatischen Türen diesen kleinen Akt der Mitmenschlichkeit mehr und mehr hinfällig macht, ist eine vielsagende Folge der Technisierung der Welt. Was bleibt, ist die Ur-Neugier, die da im Menschen geweckt wird. Wo immer eine Türe ist, will er wissen, was sich dahinter verbirgt. Auch am Tag der offenen Tür.

 

https://www.tagblatt.ch/amp/panorama/die-psychologie-der-tuere-ld.938349