Im Umgang mit Menschen lernen- Kommunikation in lernenden Unternehmen

Unternehmen verstehen sich zunehmend als lernende Organisationen. Die inhaltlichen Vorstellungen, die damit verbunden werden, sind so vielfältig wie die Unternehmen selbst, die sich dazu bekennen. Was in der Praxis unter einem „lernenden Unternehmen“ verstanden werden kann, wird oft durch Aussagen wie

„durch Lernen werden wir immer besser“

„Jeder von uns arbeitet daran, ständig zu lernen“

„Wir suchen und geben offenes Feedback und lernen auch aus Fehlern“

„Schneller als andere erkennen wir neue Chancen und richten Lösungen, Organisation und Verhalten daran aus“

zu verdeutlichen versucht.

Selbstverständlich stellt ein Leitbild keine Beschreibung der Realität dar (auch wenn die sprachliche Form diesen Eindruck erweckt); aber es gibt eine Richtung vor.

Das individuelle Lernen ist damit jedoch noch nicht befriedigend geklärt. Doch läßt sich auf jeden Fall feststellen, daß das Lernen eines Unternehmens das Lernen im Unternehmen, d. h. das Lernen handelnder Personen, voraussetzt. Zu einem wesentlichen Teil ist menschliches Lernen eine soziale Veranstaltung und beruht somit auf Kommunikation. Auf diesen kommunikativen Aspekt des Lernens möchte ich mich im folgenden konzentrieren.

Es stellt sich also die Frage, wie die Bedingungen des Informationsaustauschs zwischen Menschen beschaffen sein sollten, damit Lernen nicht nur zustande kommt, sondern auch möglichst effizient ablaufen kann. Als Orientierungshilfe für meinen Beitrag habe ich den Philosophen und sicherlich prominentesten Vertreter des Kritischen Rationalismus Karl Raimund Popper gewählt. Mit Kritischem Rationalismus wird eine Einstel- lung bezeichnet, die das bewußte Lernen aus Fehlern und das bewußte Lernen durch dauernde Fehlerkorrektur verfolgt. Poppers – so wörtlich – „Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen“ möchte ich vorstellen und insbesondere unter dem Aspekt der Anwendung in der Unternehmenspraxis interpretieren.

Sein wohl bekanntestes Werk ist die „Logik der Forschung“ die 1934 erschien. Der Untertitel der 1. Aufl. – „Zur Erkenntnislehre der modernen Naturwissenschaft“ – umschreibt die ursprüngliche Intention des Buches. Popper, K. R.: Logik der Forschung, 1. Aufl., Wien 1935 (im Herbst 1934 erschienen), 10. Aufl., Tübingen 1994

Die „kritische Methode“ von schrittweisem Versuch und Irrtum (bzw. Vermutungen und Widerlegungen), die Popper dort herausgearbeitet hat, wurde von ihm später auf die Sozialwissenschaften übertragen.

Die 12 Regeln können hier als ein Beitrag zur Lernkultur verstanden werden. Sie basieren auf den methodologischen Auffassungen, die Popper in seinem umfangreichen wissen- schaftstheoretischen und sozialphilosophischen Werk entwickelt hat. Die Regeln stellen eine Auswahl von Kernaussagen dar, die gewissermaßen für den Alltagsgebrauch vereinfacht wurden und damit auch im Management anwendbar sind. Bitte betrachten Sie die Regeln nicht als dogmatische Vorschriften, sondern als normative Vorschläge, die sich rational diskutieren lassen und die man akzeptieren kann oder auch nicht. Veröffentlicht wurden sie in der ersten Ausgabe der 1994 gegründeten Zeitschrift „Aufklärung und Kritik“, für deren Mitherausgeberschaft man Popper gewinnen wollte; er lehnte jedoch aus Zeitmangel ab. Die 12 Thesen präsentiere ich Ihnen als wörtliche Zitate (Quelle für alle 12 Regeln: Popper, K. R.: Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen, in: Aufklärung und Kritik, 1 (1994) 1, S. 119.)

Regel Nr. 1

„Jeder Mensch hat das Recht auf die wohlwollendste Auslegung seiner Worte.“

Es ist ein Appell an Toleranz und Offenheit, und diese Regel weist auf die große Bedeutung hin, die das Verstehen anderer für das eigene Lernen hat. Sich auf Ideen und Verhaltensweisen unserer Mitmenschen einzulassen, ist eine Voraussetzung für Lernen, und unbegründetes Mißtrauen verhindert dies. Wer beispielsweise hinter dem Kooperationsangebot eines Wettbewerbers nur einen schmutzigen Trick sieht, der die eigene Marktposition schwächen soll, begibt sich sämtlicher Chancen, die das Angebot enthalten kann. Popper fordert von uns keineswegs unkritische Naivität oder übermenschliche moralische Qualitäten, sondern sagt lediglich: „Respektiere die Rechte anderer, und Du wirst selbst davon profitieren.“

Regel Nr.2

„Wer andere zu verstehen sucht, dem soll niemand unterstellen, er billige schon deshalb deren Verhalten.“

Diese Regel hebt die überaus wichtige Unterscheidung zwischen der moralischen Bewertung von Verhaltensweisen einerseits und wertfreier Analyse andererseits hervor. Wer beispielsweise die Gründe für eine Fehlentscheidung untersucht, kann daraus für künftige Entscheidungen lernen, ohne die Fehlentscheidung zu rechtfertigen. Es wird lediglich hervorgehoben, daß unser Bild von einem Sachverhalt unvollständig bleibt, wenn wir ihn nicht auch aus der Perspektive anderer betrachten. In nahezu jedem Unternehmen lassen sich fehlendes Engagement von Mitarbeitern, Schlechtleistungen und hohe Fehlzeiten beobachten. Sogar Handlungen wie Unterschlagung und Diebstahl, bis hin zu Werkspionage und Sabotage sind Phänomene, die häufiger auftreten als gemeinhin eingeräumt wird. Vorgesetzte reagieren nicht selten mit moralischer Entrüstung und versuchen solche Probleme mit Sanktionen und Sanktionsandrohungen in den Griff zu bekommen. Im lernenden Unternehmen dagegen wird Fehlverhalten zunächst als ein Symptom begriffen, dem die Suche nach den Ursachen folgen muß. Möglicherweise lassen sich diese Ursachen von den Verantwortlichen beeinflussen mit dem Ziel, Konsequenzen für die Zukunft abzuleiten. Versucht ein Manager zu verstehen, warum Fehlverhalten in seinem Verantwortungsbereich zustande gekommen ist, dann bedeutet das ja nicht, daß er das Verhalten entschuldigt, sondern daß er nach den Schwächen in „seinem“ Organisations-, Führungs- und Sicherheitssystem sucht, um sie zu beheben. Hat man es etwa dem Mitarbeiter wegen fehlender Sicherheitsvorkehrungen allzu „leicht gemacht“, einen Diebstahl zu begehen? Wodurch ist der Datenverarbeitungsexperte, der einen wichtigen Computer mit Viren präpariert hat, in eine Situation gekommen, in der er „nichts mehr zu verlieren“ hatte?

Regel Nr. 3 

„Zum Recht ausreden zu dürfen, gehört die Pflicht, sich kurz zu fassen.“

Diese Regel ist weithin akzeptiert und eigentlich trivial. Sie verdient deswegen hervorgehoben zu werden, weil so häufig daran erinnert werden muß, sie auch zu beachten. Wer kennt sie nicht, die Vorsitzenden und Mitglieder von Arbeitsgruppen, Ausschüssen, Kommissionen usw., die endlose Monologe halten und nicht „zur Sache kommen“, ja denen es – so gewinnt man gelegentlich den Eindruck – auch gar nicht um die Sache, sondern um Selbstdarstellung geht. Wer andere nicht zu Wort kommen läßt, strapaziert nicht nur die knappe Ressource Zeit seiner Mitmenschen, sondern demonstriert damit zugleich, daß er an deren Meinung nicht interessiert ist, folglich auch nichts lernen will. Es ist sicherlich kein Zufall, daß dieses Phänomen typisch zu sein scheint für autoritäre und diktatorische Führungssysteme.

Regel Nr. 4

Jeder soll im voraus sagen, unter welchen Umständen er bereit wäre, sich überzeugen zu lassen.“

Sie setzt die grundsätzliche Bereitschaft der Kommunikationspartner, sich überzeugen zu lassen, bereits voraus und enthält damit eine klare Absage an jeden Dogmatismus, das kritische Festhalten an bestimmten Anschauungen und Verhaltensweisen. Sehr deutlich scheinen Poppers Konzept der Falsifikationsversuche und sein Verständnis von Lernen als Revision vorhandener Vorstellungen durch. Nach dieser Auffassung ist Lernen keine bloße Anhäufung von Wissen, sondern stets wird vorhandenes Wissen durch neues ersetzt. Lernen bedeutet demnach zugleich Verlernen. Wer nicht bereit ist, seine Meinung in Frage stellen zu lassen und alte Überzeugungen im Licht neuerer Erkenntnisse aufzugeben, ist nicht bereit zu lernen.

Auseinandersetzungen etwa, in denen alle beteiligten Seiten vorab erklären, sie würden unter keinen Umständen von ihrem Standpunkt abrücken, sind Zeitverschwendung und müssen durch Schlichtung oder das „Machtwort“ einer hierarchisch übergeordneten Instanz been- det werden.

Die folgenden beiden Regeln ergänzen sich.

In Regel Nr. 5 geht es um das Verstandenwerden, in Regel 6 um das Verstehen.

Sie lauten: „Wie immer man die Worte wählt, ist nicht sehr wichtig; es kommt darauf an, verstanden zu werden.“ und „Man soll niemanden beim Wort nehmen, wohl aber das ernstnehmen, was er gemeint hat.“

Sich verständlich zu machen bedeutet stets, sich auf seine Kommunikationspartner einzustellen. Eine Arbeitsanweisung oder eine Sicherheitsvorschrift, die nicht in der Sprache derjenigen abgefaßt wurde, an die sie gerichtet ist, bleibt im günstigsten Fall nutzlos und richtet im schlimmsten Fall Schaden an. Darüber hinaus ist das Verhältnis von Form und Inhalt schriftlicher Berichte angesprochen. Die Wortwahl als formale Komponente ist lediglich Mittel zum Transport des Inhalts. Ein sprachlich überfeinerter Bericht trägt nichts zur besseren Erfüllung des Informationszwecks bei, seine Erstellung hat aber auf jeden Fall mehr Zeit als nötig in Anspruch genommen.


Regel Nr. 6

„Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.“

Im übrigen tragen Akademiker eine besondere Verantwortung und sollten Nachsicht üben, wenn es darum geht, das Gemeinte aus dem geschriebenen oder gesprochenen Wort von Mitmenschen zu extrahieren, die weniger sprachgewandt sind als sie selbst.

Regel Nr.7

„Es soll nie um Worte gestritten werden, allenfalls um die Probleme, die dahinter stehen.“

Der Streit um Worte, einzelne Formulierungen und Definitionen, so Popper, ist fruchtlos, da er zu keinem Erkenntniszuwachs führt. Anders verhält es sich mit einer rationalen Auseinandersetzung über sachliche Probleme, aus der die Beteiligten voneinander lernen können, wenn sie entsprechend Regel Nr. 4 dazu bereit sind.

Ich komme nun zu den Regeln 8 bis 12. Deren Gemeinsamkeit besteht darin, daß die Kritik im Mittelpunkt steht. Kritik hat häufig einen negativen Beigeschmack, wird empfunden als etwas, das Ärger erzeugt und bedrohlich wirkt. Kurz gesagt, Kritik steht für „schlechte Nachrichten“.

Zwar muß der Überbringer einer sog. schlechten Nachricht heutzutage nicht mehr um seine physische Existenz fürchten, aber für einen Karriereknick kann ein allzu offenes Wort immer noch reichen. Genau die entgegengesetzte Bedeutung besitzt Kritik im Rahmen der kritischen Methode: Kritik wird als wertvoll erkannt, weil sie die Korrektur unserer Vorurteile und Irrtümer ermöglicht und damit eine Voraussetzung für Lernen ist. In diesem Sinne sind die sog. schlechten Nachrichten gute Nachrichten; das Attribut „schlecht“ bezieht sich also nicht auf die Nachricht selbst, sondern auf den kritikwürdigen Sachverhalt, den sie abbildet.

Warum aber ist qualifizierte Kritik so selten? Betrachtet man das Verhältnis zwischen einem potentiellen Kritiker und dem potentiellen Kritikempfänger, so zeigt sich, daß zwischen beiden eine asymmetrische Informationsverteilung vorliegt. Ohne ein Informationsgefälle käme ein Lerneffekt gar nicht zustande. Mit einer noch nicht geäußerten Kritik verfügt also der Kritiker über eine Information, die der zu Kritisierende regelmäßig nicht besitzt, die aber nützlich für ihn ist oder zumindest sein kann. Bei rationalem Verhalten müßte das Interesse des potentiellen Kritiknehmers darauf gerichtet sein, Kenntnis von der Existenz und dem Inhalt der Kritik zu erhalten. Allerdings sind mit dieser Kenntnisnahme Risiken verbunden: Ist die Kritik vielleicht verletzend? Stellt sie mich bloß oder kann sie in anderer Weise schaden? Für den Kritiker stellt sich die Situation so dar, daß er vor der Entscheidung steht, eine Kritik entweder an den „richtigen“ Adressaten weiterzugeben oder sie zurückzuhalten oder sie anderweitig zu verwerten (z. B. einem Dritten gegen Bezahlung anzubieten bzw. auch nur damit zu drohen). Das Hauptmotiv für Kritikzurückhaltung ist natürlich die Befürchtung, Nachteile für eine Kritikäußerung zu erleiden. Nur wenn der Kritiker seine Kritik an denjenigen, den sie angeht, weitergibt, kann sie ihre positive Wirkung entfalten. Verwertung zu Lasten des Kritisierten ist ein klarer Fall von moral hazard, und bei Kritikzurückhaltung decken sich die Bestrebungen beider Seiten, ihr jeweiliges Risiko zu reduzieren. Berücksichtigt man zusätzlich das Unternehmensinteresse, so wirkt Kritikzurückhaltung wie ein stillschweigender Kontrakt zwischen potentiellem Kritikgeber und -nehmer zum Nachteil des Unternehmens. Dies zeigt, wie wichtig es ist, unternehmensintern erstens eine institutionelle Absicherung von Kritik, die die Risiken für die Beteiligten reduziert, und zweitens ein Anreizsystem zu schaffen, das wertvolle Kritik belohnt. Ein Beispiel für ein solches System materieller und ggf. immate- rieller Anreize ist das Betriebliche Vorschlagswesen.

Kritik findet in Unternehmen insbesondere in Form von Überwachungshandlungen, d. h. Kontrollen und Revisionen statt. Während beispielsweise eine Qualitätskontrolle einzelne Produkte auf Fehler untersucht, nimmt ein Qualtätsaudit das gesamte System der Quali- tätssicherung kritisch unter die Lupe. In beiden Fällen werden Rückkopplungen im Sinne des Regelkreismodells eingeleitet; ohne Feedback ist Lernen unmöglich. Kritik an einem Ist-Zustand setzt eine Vergleichsinformation voraus, die als Norm oder Standard fungiert.

Beim Benchmarking, der methodischen Weiterentwicklung des altbekannten Be- triebsvergleichs mit dem Ziel, von anderen zu lernen, wird der Vergleich mit den jeweils besten Praktiken gesucht. Unternehmen können sich betriebsinterner und -externer Kritik bedienen. Ein Beispiel für den Fremdbezug der Dienstleistung Kritik ist die Beauftragung eines Unternehmensberaters.

Regel Nr. 8

„Kritik muß immer konkret sein.“

Daß pauschale Kritik, der sog. Rundum- schlag, und bloßes Meckern nicht hilfreich sind, pflegen Unternehmen beispielsweise in ihren Regelungen zu berücksichtigen. Dort wird als eine der Anforderungen an Verbesserungsvorschläge eben auch die konkrete Beschreibung dessen, was verbesserungsbedürftig ist, verlangt. Meines Erachtens hat betriebliche Kritik vor allem die folgenden vier aus der Logistik bekannten Anforderungen zu erfüllen:

Kritik sollte geübt werden

1. in der richtigen Menge, d. h. wohldosiert (insbesondere nicht vernichtend),

2. in der richtigen Qualität (also sachlich, höflich, konstruktiv, nicht beckmesserisch),

3. zum richtigen Zeitpunkt und

4. am richtigen Ort.

Regel Nr.9

„Niemand ist ernstzunehmen, der sich gegen Kritik unangreifbar gemacht, also ‚immunisiert‘ hat.“

Weil Kritik vordergründig als störend oder als in anderer Weise unangenehm empfunden wird, arbeiten Menschen und Unternehmen mit Immunisierungstaktiken, um sich vor Kritik zu „schützen“.

Unabhängig davon, worin im Einzelfall die Ursachen und Motive für Immunisierung bestehen mögen, ob Bequemlichkeit, Unsicherheit oder Arroganz, der Zweck ist stets der gleiche, nämlich zu vermeiden, die eigenen Überzeugungen, Handlungsweisen usw. auf den Prüfstand stellen zu müssen.

Wie vielfältig Immunisierung gegen Kritik aussehen kann, sei an einigen Beispielen illu- striert. Besonders wirksam ist es, sich auf Autoritäten zu berufen, also z. B. auf die Geschäftsleitung, die ja der gleichen Ansicht sei (auch wenn das gar nicht stimmt), oder auf tatsächliches oder eingebildetes Expertentum, das auf Außenstehende abschreckend wirken soll. Auch der Hinweis, daß etwa der als besonders kompetent angesehene Wett- bewerber A mit einer bestimmten Software arbeite, kann schon genügen, deren Vorteil- haftigkeit für den eigenen Betrieb nicht mehr in Zweifel zu ziehen. Eine andere Taktik ist die Tabuisierung, die mit offenen oder verdeckten Kritikverboten arbeitet. Ein weiteres Immunisierungsprinzip versucht dem Kritiker „den Wind aus den Segeln zu nehmen“.

Regel Nr. 10 wendet sich hauptsächlich an den Kritiker; sie lautet:

„Man soll einen Unterschied machen zwischen Polemik, die das Gesagte umdeutet, und Kritik, die den anderen zu verstehen sucht.“

Nicht in jedem Fall ist Polemik kontraproduktiv. Bewußt eingesetzt, kann eine Übertreibung dazu beitragen, den Kern einer Argumentation freizulegen. Zuweilen bedarf es auch einer Provokation, um sonst taube Ohren überhaupt erst für Kritik zu sensibilisieren. Andererseits ruft überzogene Kritik bei empfindlichen Adressaten schnell Immunisierungsversuche hervor. Grundsätzlich kann Kritik ihre konstruktive Wirkung am besten entfalten, wenn sie angemessen und redlich ist. Der Kritiker hat erstens zu beachten, daß der Zweck der Kritik nicht jedes Mittel der Auseinandersetzung rechtfertigt, und zweitens, daß der Kritisierte nicht Opfer, sondern Nutznießer der Kritik sein soll. Auch wenn in Regel 10 lediglich die Umdeutung von Argumenten angesprochen wird, läßt sich die Aussage ohne weiteres auf Handlungen und Unterlassungen verallgemeinern.

Regel Nr.11 behandelt die Einstellung des Kritikempfängers zur Kritik:

„Kritik soll man nicht ablehnen, auch nicht nur ertragen, sondern man soll sie suchen.“

Die schärfste Form der Ablehnung von Kritik besteht wohl in dem Versuch, den Kritiker als Person zu diskreditieren und zu bekämpfen. Solche Maßnahmen gehen über eine Immunisierung hinaus. Gelingt es beispielsweise, einen innerbetrieblichen Kritiker als Querulanten abzustempeln oder als unerfahren oder nicht glaubwürdig bloßzustellen, haben seine sachlichen Argumente keine Chance mehr, Gehör zu finden. Unsichere und kritikungewohnte Füh- rungskräfte konstruieren aus sachlicher Kritik schnell ein Loyalitätsproblem. Geradezu ein Kampfbegriff mit immunisierender Stoßrichtung ist der des „Nestbeschmutzers“. Seine Verwendung drängt den Kritiker nicht nur ins moralische Abseits, sondern unterstellt zudem, daß sich ohne seine Kritik noch alles in bester Ordnung befinden würde. Da nun die

Kritik als das eigentliche Übel identifiziert ist, erübrigt sich denn auch eine Untersuchung des Sachverhalts, der den Anlaß zur Kritik gegeben hatte.

Daß viele Führungskräfte nicht einmal die zweite Stufe des aufgeklärten Kritiknehmers, nämlich Kritik nur zu ertragen, erreichen, liegt häufig an übertriebener Eitelkeit. Dazu sei Reinhard Mohn, der langjährige Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzende von Bertels- mann, zitiert:

„Der eitle Manager ist leicht verletzlich. Schon eine nach seiner Meinung unzureichende Beachtung irritiert ihn maßlos. Seine Angst vor einem Mißerfolg ist übersteigert. Tritt dieser einmal ein, so wird er alles tun, um sein Gesicht nicht zu verlieren, bis hin zur unkorrekten Darstellung der Geschehnisse. Selbst berechtigte Kritik kann er nicht akzeptieren und empfindet sie als persönlichen Angriff. Allen Gerüchten geht er nach und hält für ganz wichtig, „was die Leute sagen“. Entspricht seine Beurteilung nicht seinen Vorstellungen, so deprimiert ihn das über alle Maßen. Als Konsequenz flüchtet er sich nicht selten in die Isolierung und verschließt sich jeder Kritik. Am Ende wagt niemand mehr, ihm noch zu widersprechen. Seine Untergebenen wissen, daß ihr Rat weder erwünscht ist noch akzeptiert wird und daß Widerspruch für sie eine persönliche Gefahr bedeutet. So ist schließlich dieser Manager nur noch von ‚Ja-Sagern‘ und Schmeichlern umgeben.“

(Mohn, R.: Schaumschläger im Vorstandssessel – Der Faktor Eitelkeit im Leben des Managers, in: Die Zeit, Nr. 1 v. 27.12.1985, S. 28.)

Man könnte den resultierenden Realitätsverlust als lediglich persönliches Problem des eitlen Managers einstufen, wären da nicht die negativen Folgen für das Unternehmen.

Die höchste Stufe kritischer Rationalität ist mit der aktiven Kritiksuche erreicht; diese läßt sich durch Institutionalisierung unterstützen. Schon absolute Herrscher früherer Jahrhunderte, die den Nutzen von Kritik erkannt hatten, schufen die Institution des Hofnarren. Dieser übte wegen der sozialen Statusdifferenz keine offene Kritik, sondern mußte sich einer ritualisierten Form bedienen, die gekennzeichnet war durch Tarnung, spaßige Verstellung und die Beschränkung auf Andeutungen. Einer Kritik von Mitarbeitern an ihren Vorgesetzten steht auch heutzutage der Hierarchieunterschied im Weg. Dieser kann zumindest ansatzweise überwunden werden, wenn die Beurteilung von Vorgesetzten institu- tionalisiert und akzeptierten Regeln unterworfen wird. Erst einige wenige Unternehmen, die den Anspruch zu lernen ernst nehmen, praktizieren die Vorgesetztenbeurteilung, wie z. B. Arthur Andersen (dort wird sie als „Bottom up-Beurteilung“ bezeichnet).

Eine weitere Möglichkeit der institutionalisierten Kritiksuche stellt das im japanischen Ma- nagement praktizierte Kaizen dar. In Deutschland ist es unter der Bezeichnung „kontinuierlicher Verbesserungsprozeß“ (KVP) bekannt geworden. Vergleicht man die Kurzdefinition „KAIZEN heißt ständige Verbesserung, in die Führungskräfte wie Mitarbeiter einbezogen sind“ (Imai, M.: KAIZEN, 11. Aufl., München 1993, S. 23.) mit der Charakterisierung der kritischen Methode, so verblüffen die Ge- meinsamkeiten, die bei näherer Betrachtung beider Konzepte sogar noch größer werden.

Die Erkenntnis, daß man von seinen Kunden lernen kann, indem man ihre Kritik heraus- fordert, scheint bei kleinen und Kleinstunternehmen gelegentlich stärker ausgeprägt zu sein als bei mittleren und großen. Vor geraumer Zeit ist mir in einem typischen „Tante- Emma-Laden“ ein vom Inhaber offensichtlich selbst angefertigtes Schild aufgefallen, das an der altertümlichen Zeigerwaage befestigt war. Auf diesem Schild stand in sorgfältig gemalten Lettern:

„Sind Sie zufrieden, sagen Sie es anderen. Sind Sie es nicht, bitte sagen Sie es mir.“

Von Beschwerdemanagement und Kundenzufriedenheit versteht der zitierte Ladeninhaber – auch wenn ihm diese Bezeichnungen fremd sein mögen – mehr als manch ein Mitarbeiter oder Manager eines größeren Unternehmens, der hin und wieder vergißt, daß er letztlich den Kunden seines Unternehmens den eigenen Arbeitsplatz verdankt.

Regel Nr 12:

„Jede Kritik ist ernstzunehmen, selbst die in böser Absicht vorgebrachte; denn die Entdeckung eines Fehlers kann uns nur nützlich sein.“

Popper weist darauf hin, daß uns die Motive des Kritikers ziemlich gleichgültig sein können, wenn wir von einer Kritik profitieren wollen. Hier schließt sich der Kreis der oben angesprochenen reziproken Betrachtungsweise. Selbst wenn Boshaftigkeit der einzige Beweggrund sein sollte, der einen Kritiker umtreibt, so mag das zwar dessen Armseligkeit beweisen, es sagt aber nicht ohne weiteres etwas über die Qualität der Kritik aus. Diese kann trotzdem einen sachlichen Kern enthalten und berechtigt sein. Jeder Fehler, der durch Kritik aufgedeckt und vor dem Vertuschen bewahrt wird, beinhaltet die Chance, zu lernen. Auf die hilfreiche Funktion von Fehlern spielt auch der folgende Ausspruch an, der dem IBM-Gründer Thomas Watson zugeschrieben wird: „Wenn du Erfolg haben willst, verdopple deine Fehlerquote.“

Damit sind alle 12 Regeln des Lernens in Bezug auf die Kommunikation nach der kritischen Methode vorgestellt.

Imai, M.: KAIZEN, 11. Aufl., München 1993

Mohn, R.: Schaumschläger im Vorstandssessel Der Faktor Eitelkeit im Leben des Managers, in: Die Zeit, Nr. 1 v. 27.12.1985, S. 28

Müller-Merbach, H.: Mitmenschen verstehen, um von ihnen zu lernen – zwölf Regeln von

Sir Karl Popper, in: technologie & management, 44 (1995) 4, S. 188 – 193

Popper, K. R.: Logik der Forschung, 10. Aufl., Tübingen 1994

Popper, K. R.: Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen, in:

Aufklärung und Kritik, 1 (1994) 1, S. 119

Von Mitmenschen lernen –

12 Regeln von Karl R. Popper

1. Jeder Mensch hat das Recht auf die wohlwollendste Auslegung seiner Worte.

2. Wer andere zu verstehen sucht, dem soll niemand unterstellen, er billige schon deshalb deren Verhalten.

3. Zum Recht ausreden zu dürfen, gehört die Pflicht, sich kurz zu fassen.

4. Jeder soll im voraus sagen, unter wel- chen Umständen er bereit wäre, sich überzeugen zu lassen.

5. Wie immer man die Worte wählt, ist nicht sehr wichtig; es kommt darauf an, ver- standen zu werden.

6. Man soll niemanden beim Wort nehmen, wohl aber das ernstnehmen, was er ge- meint hat.

7. Es soll nie um Worte gestritten werden, – allenfalls um die Probleme, die dahinter stehen.

8. Kritik muß immer konkret sein.

9. Niemand ist ernstzunehmen, der sich ge- gen Kritik unangreifbar gemacht, also ‚immunisiert‘ hat.

10. Man soll einen Unterschied machen zwischen Polemik, die das Gesagte umdeutet, und Kritik, die den anderen zu verstehen sucht.

11. Kritik soll man nicht ablehnen, auch nicht nur ertragen, sondern man soll sie suchen.

12. Jede Kritik ist ernstzunehmen, selbst die in böser Absicht vorgebrachte; denn die Entdeckung eines Fehlers kann uns nur nützlich sein.

Quelle: Popper, K. R.: Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen, in: Aufklärung und Kritik, 1 (1994) 1, S. 119