Je wichtiger mir meine Entscheidung ist, desto weniger kann ich sie treffen.
Wir entscheiden, welches Leben wir führen.
Mit Entscheidungen formen wir unsere Zukunft. Unser Leben soll besser, sicherer, lustiger, aufregender oder angenehmer durch diese Entscheidungen werden. Hätten wir dieses Ziel nicht, ergebe das Entscheiden wenig Sinn. Da aber niemand in die Zukunft schauen und mit Sicherheit voraus sagen kann, ob eine Entscheidung am Ende zum erhofften Ergebnis führt, ist jede Entscheidung, und sei sie noch so klein, ein Risiko. Bei nicht wenigen unserer Entscheidungen ist unter anderem auch mit heftigen Gegenreaktionen und Widerständen zu rechnen, was die eigene Situation erst einmal noch unangenehmer macht.
So zu leben, wie man will, ist aus diesen Gründen gar nicht so einfach. Ich kann zwar viele kleine und große Entscheidungen treffen, aber gerade bei den wichtigsten Themen des Lebens lässt sich nämlich nie so richtig klären, ob es gut und klug ist, sich so oder ganz anders zu entscheiden.
Es ist deswegen nicht ungewöhnlich, dass so viele Menschen zögern, sich für etwas Neues zu entscheiden, selbst wenn es sie noch so sehr nach Veränderung schreit. Was aber ist zu tun, wenn sämtliche zur Verfügung stehenden Alternativen nicht die notwendige Begeisterung hervorrufen und ich mich nicht entscheiden kann? Einer wichtigen Entscheidung scheint man mit keinem noch so klugen Argument beikommen zu können: aus dem Bauch heraus oder doch lieber die Vernunft entscheiden lassen? Andere Meinungen einholen?
Je mehr man unternimmt, desto mehr verstrickt man sich in seinem Entscheidungsproblem. Denn jeder Ratschlag, jede gut gemeinte Unterstützung macht die Angelegenheit nur noch komplizierter: nun muss ich nicht nur mein eigentliches Problem lösen, sondern auch noch überlegen, welche der Ratschläge ich auf meine konkrete Entscheidung anwenden soll. In welcher Situation sollen wir das Neue wagen, wann lieber das Alte zu schätzen wissen, wann ein Kompromiss eingehen und wann lieber alles fordern? Wann sich zusammenreißen, wann lieber lockerlassen, wann auch mal andere Ansichten gelten lassen und wann lieber nur auf unsere eigene Stimme hören? Und wie sollen wir herausfinden, ob wir unsere konkreten Fall gerade die Regel die bessere Alternative ist oder doch die Ausnahme? Ob man Bücher, Statistiken, Experten, Freunde, Horoskope oder Orakel befragt, damit lassen sich Entscheidungen durchaus aufschieben, doch nichts ändert etwas an der Tatsache, dass eine Entscheidung getroffen werden muss.
Und zwar von uns selbst. Einfach so. Jetzt.
Der Soziologen Niklas Luhmann stellte treffend fest, dass eigentlich nur Entscheidungen, die man nicht treffen kann, es überhaupt wert sind, Entscheidungen genannt zu werden.
„Man kann sich natürlich entscheiden, nicht zu entscheiden, aber dann konstruiert man eine neue Alternative mit einem neuen »oder«: Entscheiden oder Nichtentscheiden“ (Die Paradoxie des Entscheidens, Niklas Luhmann)
Unwichtige Entscheidungen treffen wir meist unbewusst oder im vorbeigehen, sie fallen uns daher kaum auf. Und gibt es bei wichtigeren Entscheidungen eine Option, die man, aus welchen Gründen auch immer, für attraktiver hält als andere, dann ist die Sache in dem Moment entschieden. Von selbst und in Sekundenschnelle, wer würde über so einen unproblematischen Vorgang überhaupt sprechen wollen? Erst wenn sich die Vor– und Nachteile sämtlicher uns zur Verfügung stehenden Alternativen genau in die Waage halten, bemerken wir überhaupt, dass wir entscheiden müssen. Entscheiden wollen und nicht entscheiden können treten leider immer gleichzeitig auf.
Dieses Entscheidungsparadoxon sei daran schuld, dass jeder einzelne heimlich davon überzeugt sei, er habe eine Entscheidungsschwäche, so Luhmann. Dabei sei es keine Marotte oder kein Charakterfehler, sich nicht entscheiden zu können, sondern es liege in der Natur der Sache.
Denn: Echte Entscheidungen kann man eigentlich gar nicht entscheiden.
Wären Entscheidung nicht willkürlich, könnte man sie gar nicht treffen. Daher gibt es auch keine wirklich sinnvollen Entscheidungstipps (und wird sie auch nie geben). Aus diesem Grund empfiehlt sich bei wirklich wichtigen Entscheidungen am ehesten noch der berühmte Münzwurf. Denn nur die Münze kann und sagen welche Option wir doch ein ganz, ganz kleines bisschen bevorzugen. Je nachdem, wie die Münze fällt, sind wir nämlich ein bisschen enttäuscht oder erleichtert – und genau das ist ausreichend, um sich zu entscheiden.
„ Der Münzwurf funktioniert im übrigen auch ohne Münze. Kann sich beispielsweise ein Klient nicht entscheiden, fragt man ihn einfach, ob sich für Ihn wirklich alle Alternativen gleichwertig anfühlen. Er wird natürlich mit Ja antworten. Daraufhin sagt man ihm, dass es dann ja egal ist, wie er sich entscheidet. Er wird natürlich vehement widersprechen! Man muss nun das erste Argument registrieren, dass er vorbringt, denn das scheint ihm ein Hauch wichtiger zu sein als alle anderen, die noch folgen werden, sonst hätte er es nicht als erstes genannt“ü
Wir können also nicht in die Zukunft schauen und können daher niemals mit Sicherheit vorher sagen, wie sich die Dinge nach einer Entscheidung entwickeln. Da man es aber wirklich nicht besser weiß und auch nie besser wissen wird, kann man doch eigentlich nichts falsch machen? Warum zögern wir noch, warum entscheiden wir nicht einfach?
Viele Menschen, sind davon überzeugt, sie könnten glücklich werden, wenn sie sich nur immer richtig entscheiden. Die Annahme ist, schon durch die erste richtige Entscheidung ergeben sich neue richtige Möglichkeit und neue richtige Kontakte entstehen, was es wiederum leichter macht, die nächsten anstehenden Entscheidungen zu fällen, und so geht es immer weiter und weiter, bis man am Schluss ein hochzufriedener Mensch ist. In dieser Vorstellung sind also nicht nur die Umstände ideal, sondern auch wir selbst.
Na dann…😜
„Wer nicht jubelt, für den ist es höchste Zeit, lebensverändernde Entscheidungen zu treffen.“
Eine Entscheidung muss her, mit der man irgendwie mit dem alten Leben abschließen und ein neues beginnen kann. Je früher, desto besser. Aber je mehr uns die anderen in unser Leben reinreden, und genau das ist heute der Fall, desto inkompetenter fühlen wir uns, wichtige Entscheidungen in unserem Sinne zu treffen. Jeder, ausnahmslos jeder Tipp, wie man glücklich wird, macht unglücklich, weil man nicht der (glückliche) Autor ist! Liest man zu viel davon, hat man am Ende das Gefühl, alle, aber wirklich alle, sind in puncto Lebensführung kompetenter als man selbst. Sich mit den richtigen Entscheidungen ein glückliches Leben zusammenstellen zu können, ist eine schöne Idee. Schließlich ist es eine scheußliche Vorstellung, gar keinen Einfluss auf sein Schicksal zu haben. Doch zu viel Einfluss ist wiederum kontraproduktiv: wer nämlich das Gefühl hat, dass bei jeder Entscheidung sein Lebensglück auf dem Spiel steht, macht sich defacto entscheidungsunfähig. Man kennt diese Situation nur zu gut, und zwar aus der Teenagerzeit, die unter anderem deswegen so schrecklich war, weil man quasi stündlich lebenswichtige Entscheidung zu treffen hatte. Passen eher naturwissenschaftliche Fächer oder Sprachen zu einem? Oder doch lieber Sport oder Musik? Sollte man ins Ausland gehen oder in der Firma seines Vaters einsteigen? Dauernd war man kurz davor, die falsche Abzweigung zu nehmen und damit sein Leben zu ruinieren. Oder hat man es sogar schon ruiniert, weil man im falschen Moment nicht gelächelt und sich so von der Liebe seines Lebens abgeschnitten hat? Oder weil man am Telefon zu energisch war und so das Traumpraktikum nicht bekommen hat, was natürlich bedeutete, dass auch die Chance auf den Traumberuf und das Traumleben verpfuscht war? Freiheit fühlt sich irgendwie anders an.
Mit jeder Entscheidung können wir unser Leben in bessere Bahnen lenken. Bevor man sich mit solchen Behauptungen Mut machen lässt, sollte man sich klarmachen, dass man sein Leben durch die falsche Entscheidung auch verschlechtern kann. Denn schließlich beinhaltet jede Entscheidung auch die Folgen, die nicht vorhersehbar sind. Diese Konsequenz kann natürlich auch nicht dadurch überwunden werden, wenn man sich immer wieder vorsagt, wie wichtig die anstehende Entscheidung doch ist. Wenn man sich dann endlich durchringt, diese wichtige Entscheidung zu treffen, ist die Erleichterung sowieso nur von kurzer Dauer. Denn bald schon steht die nächste Entscheidung auf dem Plan, und auch die ist in der Regel nicht weniger existenziell. Ist man einmal in dieser paradoxe Situation gefangen, kann einen keiner daraus befreien. Wie lange müssen Menschen nach dem richtigen Weg suchen, bevor sie erkennen, dass es genau diese Suche ist, die sie überhaupt erst so unglücklich macht. Wer glücklich sein will, wird sich immer automatisch fragen, warum er es noch nicht ist, und die Schuld bei sich suchen. Und natürlich auch finden. Dabei gibt es in jedem Leben Umstände und Vorkommnisse, die nicht gerade darauf ausgelegt sind, einen froh und glücklich zu machen. Und nicht alle Umstände lassen sich unbedingt ändern, selbst durch die radikalste Entscheidung nicht. Glück lässt sich nur bedingt durch eine Entscheidung herbeiführen, Glück ist wie das Entscheiden, eine paradoxe Angelegenheit. Glück ist zum Beispiel auch, nicht auf sein Glück angewiesen zu sein.
Eine souveräne Entscheidung kann man eigentlich nur treffen, wenn man dabei so tut, als käme es nicht darauf an. Schließlich sollte man als souveräner Mensch auch mit einer Fehlentscheidung gut weiter leben können. Ist es nicht eigentlich Ehrensache, dass man auf Situationen, in denen man nicht vor Glück jubelt, gelassen meistert? Reisen, Jobs, Freunde und Sportarten können falsch gewählt sein, das macht einen souveränen Menschen vielleicht nicht glücklich. Aber auch nicht zwingend unglücklich.
Wir können also nicht in die Zukunft schauen und können daher niemals mit Sicherheit vorher sagen, wie sich die Dinge nach einer Entscheidung entwickeln. Da man es aber wirklich nicht besser weiß und auch nie besser wissen wird, kann man doch eigentlich nichts falsch machen?
Warum zögern wir also noch, warum entscheiden wir nicht einfach?
R. Niazin-Shahabi, Mir steht alles offen, ich finde nur nicht die Tür, Pieper Verlag 2019