„Ach“,sagte die Maus,“die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“

„Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

Welche Lehre also steckt in dieser kleinen Fabel?

Das Leben scheint in der Jugend oft beängstigend offen. Auf der Suche nach Orientierung werden Entscheidungen getroffen, die den gesamten weiteren Lebensweg bestimmen. Menschen begeben sich zwischen Mauern. Ihre Entscheidungen schließen andere Lebenswege aus. Und Kafka scheint der Meinung zu sein, dass die Einsicht, ob der Weg der richtige war oder nicht, erst dort fällt, wo der Weg an ein Ende oder an eine Grenze kommt. Doch dort, wo eine Umkehr vielleicht noch möglich ist, lauert die Katze, die nichts anders tut, als ihr eigen ist: Sie frisst die Maus und verhindert so die Umkehr, die Umsetzung der Einsicht.

Die »Kleine Fabel«, die kurze Geschichte von der Maus, der Falle und der Katze, hat mich von Beginn an fasziniert. Doch erst heute, viele Jahre und Erfahrungen später, kommt sie mit der ganzen Wucht, die zwischen den Zeilen ruht, richtig zum Tragen. Denn mit Anfang zwanzig fühlt man sich unsterblich. Das Leben liegt weit ausgebreitet vor einem, mit all seinen Möglichkeiten. Keine Mauern weit und breit. Drei Jahrzehnte später hat man einiges mehr erlebt, Entscheidungen wurden getroffen, Städte wurden gewechselt, Jobs gefunden, Freundschaften geschlossen, andere zerbrochen, Narben jeglicher Art davongetragen. Und für manche Möglichkeiten hat sich das Zeitfenster geschlossen. Dazu kommt der körperliche Verfall, wobei das Wort »Verfall« jetzt ein bisschen zu dramatisch klingt. Aber trotzdem. Die Haare beginnen zu ergrauen. Beim Joggen werde ich regelmäßig überholt. Und wenn es mal Abends so richtig spät wird, benötige ich nicht nur eine Dusche und eine Tasse starken Kaffee, um wieder auf die Beine zu kommen, sondern den ganzen nächsten Tag. Und ich habe erfahren, dass das Leben durchaus endlich und jeder Tag ein Geschenk ist.

Doch die Mauern aus Kafkas Geschichte, wo sind sie? Kann man sie schon sehen? Kann man der Falle entrinnen, die am Ende wartet? Ich glaube, diese Mauern sind nicht real, sie existieren nur im Kopf. Auch wenn manche Dinge nicht mehr möglich sein mögen, das Leben ist voller neuer Wege. Wichtig ist dabei, offen zu bleiben für Neues, bereit zu sein, die ausgetretenen Pfade des Alltags zu verlassen. Und dabei nicht in einer Was-wäre-wenn-Vergangenheit zu leben und vergangenen Zeiten nachzutrauern, sondern nach vorne zu schauen. Damit die Mauern noch lange außer Sicht bleiben. Denn eines ist ganz klar: Die Gefahr lauert hinter einem, in Gestalt der Katze.