Es ist schon so eine komische Sache mit dem „sich Verbiegen“
Wenn wir jemanden für uns gewinnen möchten, verbiegen wir uns oftmals kunstvoll, um so zu sein, wie der andere uns (vermeintlich) gerne hätte.
Später beklagen wir uns darüber, daß wir nicht so geliebt werden, wie wir eigentlich sind. Haben wir uns dann genug angepasst und für den anderen verändert, sind wir nicht mehr interessant.
Dazu eine kleine Geschichte, die es meiner Meinung nach auf den Punkt bringt…
Ich gehe meinen Weg. Mein Weg ist eine Straße mit nur einer Spur, meiner. Durch eine endlose Mauer zu meiner Linken wird mein Weg vom Weg einer Person abgeteilt, die auf der anderen Seite der Mauer geht. Hier und da ist in dieser Mauer ein Loch, ein Fenster, ein Schlitz, durch die ich den Weg meiner Nachbarin oder meines Nachbarn sehen kann. Irgendwann glaube ich beim Laufen auf der anderen Seite der Mauer eine Gestalt zu erkennen, die in meinem Rhythmus in die gleiche Richtung geht. Ich betrachte diese Gestalt: Es ist ein Mann. Er ist hübsch. Auch er hat mich wahrgenommen. Er schaut mich an. Ich schaue zurück. Ich lächle ihn an. Er lächelt mich an. Dann setzt er seinen Weg fort, und ich gehe schneller, weil ich mich danach sehne, diesem Mann wieder zu begegnen. Am nächsten Fenster mache ich halt. Als er ankommt, blicken wir uns durch die Öffnung an. Ich bedeute ihm mit Gesten, wie sehr er mir gefällt. Er antwortet mir ebenfalls mit Gesten. Ich bin nicht sicher, ob seine Gesten das gleiche bedeuten wie meine, aber ich glaube, er versteht, was ich ihm sagen will. Ich spüre, daß ich ihn gern noch eine Weile anschauen und mich von ihm anschauen lassen würde, aber mein Weg führt weiter … Ich sage mir, daß es wahrscheinlich weiter vorne noch eine Öffnung geben wird. Und daß ich ihn dort bestimmt treffen und mit ihm zusammensein kann. Nichts beflügelt einen so sehr wie das Verlangen, deshalb beeile ich mich, um ihn an der erhofften Tür zu treffen. Ich renne los, den Blick fest an die Mauer geheftet. Und tatsächlich: Ein Stückchen weiter vorn taucht die Tür auf.“
Dort, auf der anderen Seite, ist er, mein jetzt so geliebter, begehrter Gefährte. Und wartet–wartet auf mich. Ich winke ihm zu. Er antwortet mit einem Luftkuß. Er scheint nach mir zu rufen. Mehr braucht es nicht. Ich strebe auf die Tür zu, um auf der anderen Seite mit ihm zusammenzukommen. Die Öffnung ist sehr schmal. Ich stecke eine Hand hindurch, eine Schulter, ich ziehe den Bauch ein, winde mich ein wenig, und fast hätte ich es geschafft, noch den Kopf … Aber da bleibt mein rechtes Ohr stecken. Ich drücke. Keine Chance. Es geht nicht. Ich kann auch mit der Hand nicht nachhelfen, denn ich kriege nicht einmal mehr einen Finger durch den Spalt … Mein Ohr paßt einfach nicht hindurch, also treffe ich eine Entscheidung, denn mein Geliebter ist dort drüben und wartet auf mich. Der Mann, von dem ich immer geträumt habe und der jetzt nach mir ruft.“
Ich hole mein Taschenmesser hervor und schneide mir mit einem entschlossenen Ruck das Ohr ab. Und tatsächlich: Mein Kopf paßt hindurch. Jetzt, wo mein Kopf auf der anderen Seite ist, merke ich, daß es nun an der anderen Schulter hakt. Die Tür ist einfach nicht für meinen Körper gemacht. Ich versuche es mit Gewalt, aber es nützt nichts. Meine Hand und der Rumpf sind durch, aber meine zweite Schulter und der zweite Arm stecken fest. Jetzt ist mir alles egal, und ich … Ohne an jedwelche Folgen zu denken, fasse ich alle Kraft zusammen und zwänge mich durch den Spalt. Der Schub renkt mir die Schulter aus, und mein Arm baumelt mir wie leblos vom Körper. Aber nun habe ich mich glücklicherweise in eine Haltung gequetscht, aus der heraus ich … Fast bin ich auf der anderen Seite. Kurz davor, mich vollständig durch den Spalt gepreßt zu haben, merke ich, daß mein rechter Fuß festhängt.
Wie ich mich auch zwinge und mühe, ich passe nicht hindurch. Es klappt nicht. Die Öffnung ist viel zu klein, als daß mein ganzer Körper hindurchkäme. Viel zu klein: Mit beiden Füßen komme ich nicht durch. Also Schluß mit der Zauderei, ich bin haarscharf davor, zu meinem Geliebten zu gelangen. Und weiter kann ich mich nicht hindurchzwängen. Also nehme ich die Axt, beiße die Zähne zusammen und hacke mir mit einem Hieb das Bein ab. Blutüberströmt, humpelnd und auf die Axt gestützt, mit ausgekugeltem Arm, nur mehr ein Ohr, ein Bein, stehe ich vor meinem Geliebten.
„Hier bin ich. Endlich hat’s geklappt. Du hast mich, ich habe dich angesehen, und dann habe ich mich in dich verliebt. Habe keine Mühen gescheut, denn im Krieg und für die Liebe muß man alles riskieren. Kein Opfer ist zu groß. Um dich zu treffen und mit dir zusammenzusein, mit dir zusammenzusein für immer, hat sich das Leiden gelohnt …“
Mit einem verzerrten Lächeln sieht er mich an. „So nicht, nein, so will ich dich nicht … Mir hast du gefallen, als du noch heil warst.“