Sage so viel wie notwendig und nicht mehr.
Sage die Wahrheit.
Halte dich an das Wesentliche.
Drücke dich klar aus.

Das klingt völlig vernünftig – bis wir anfangen, realen Gesprächen zuzuhören und darüber nachzudenken. Zum einen sind all die scheinbaren Absolutismen, die diesen Regeln zu Grunde liegen, in Wirklichkeit äußerst relativ.

Wie viel ist notwendig? Welche Wahrheit? Was ist wesentlich? Was klar?

Aber sogar, wenn wir uns über diese Werte einigen könnten, würden wir nicht einfach mit unseren Absichten und Meinungen herausplatzen, weil wir mit unseren Bedürfnissen nach Verbundenheit und Unabhängigkeit jonglieren.

Von dem Philosophen Schopenhauer stammt das oft zitierte Beispiel von den Stachelschweinen,  die durch einen kalten Winter müssen. Sie rücken ganz dicht zusammen, um sich zu wärmen, aber die Spitzen Stacheln pieksen, also rücken sie wieder voneinander ab. Aber dann frieren sie wieder. Sie müssen ihre Nähe und Distanz immer wieder neu regulieren, um einerseits nicht zu erfrieren und sich andererseits nicht an den Stacheln ihres Stachelschweinkollegen– Quelle des Trostes und des Schmerzes – zu verletzen. Wir brauchen die Nähe des anderen, weil sie uns ein Gefühl von Gemeinschaft gibt und uns in dem Glauben bestärkt, nicht allein auf der Welt zu sein. Aber wir brauchen auch die Distanz zu anderen, um unsere Unabhängigkeit bewahren zu können und nicht von den anderen unterdrückt oder verschlungen zu werden. In dieser Dualität spiegelt sich unser Menschsein. Wir sind Individuen und soziale Wesen. Wir brauchen die anderen zum Überleben, aber wir wollen als Individuen überleben. Man könnte diese Dualität auch so beschreiben, dass wir alle gleich und anders sind. Es ist tröstlich, verstanden zu werden, doch die Unmöglichkeit, jemals völlig verstanden zu werden, ist schmerzlich. Andererseits ist es auch wieder tröstlich, wenn wir anders sind als die anderen – einzigartig und unverwechselbar– und schmerzlich, wenn wir genauso sind wie sie, nichts als Rädchen im Getriebe.

Gleichgültig, welchen relativen Wert wir der Verbundenheit und Unabhängigkeit beimessen und wie wir diese Werte ausdrücken: Menschen – wie Stachelschweine – sind ständig bemüht, diese wiederstreitenden Bedürfnisse auszubalancieren. Aber die Stachelschwein – Metapher ist ein bisschen irreführend, weil sie eine Sequenz suggeriert: einen Wechsel von Zusammen – und Auseinanderrücken. Unsere Bedürfnisse nach Verbundenheit und Unabhängigkeit – zusammen und getrennt zu sein – folgen nicht aufeinander, sondern sind gleichzeitig vorhanden. Bei allem, was wir sagen, müssen wir beiden Bedürfnissen gleichzeitig gerecht werden. Und deshalb sitzen wir in der Beziehungsfalle. Alles, was wir sagen, um unsere Verbundenheit mit anderen zu zeigen, bedroht prinzipiell unsere (und ihre) Individualität. Und alles, was wir sagen, um unsere Distanz zu anderen zu zeigen, bedroht prinzipiell unser (und ihr) Bedürfnis nach Verbundenheit. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Konflikt (wenn man sich zwischen zwei Alternativen hin – und hergerissen fühlt) oder um Ambivalenz (wenn man eine Sache zwei Gefühle entgegenbringt). Es ist eine Double-bind Situation, eine Beziehungsfalle, weil alles, was wir tun, um das eine Bedürfnis zu erfüllen, zwangsläufig das andere verletzt. Und wir können den Kreis nicht durchbrechen. Wenn wir es versuchen, indem wir aufhören zu kommunizieren, geraten wir ins Kraftfeld unserer Verbundenheitswunsches und schon sitzen wir wieder mitten drin. Aufgrund dieser Doppel -bind – Situation kann es so etwas wie perfekte Kommunikation niemals geben. Wir können keinen stabilen Zustand erreichen. Wir haben keine andere Wahl, als weiterhin zu versuchen, die Ballons zu halten zwischen Unabhängigkeit und Verbundenheit, Freiheit und Sicherheit, dem Vertrauen und dem Fremden – und immer wieder kleine Korrekturen und Anpassungen vornehmen, wenn wir uns zu sehr in die eine oder andere Richtung neigen. Diese Art und Weise, wie wir diese Anpassungen in unseren Gesprächen vornehmen, ist das, was gemeinhin als Höflichkeit bezeichnet wird.

 

 

 

 

 

 

D. Tannen 1992: Das hab ich nicht gesagt! ernst Kabel Verlag